BLICK-Legende erinnert sich an das Olympia-Grauen 1968
«Dieses Massaker werde ich nie vergessen»

Olympia in Mexiko vor 50 Jahren schrieb viele Geschichten. Die Black-Power-Faust von Tommie Smith. Der Jahrhundert-Sprung von Bob Beamon. Der langjährige BLICK-Chefreporter Mario Widmer denkt aber an ein ganz trauriges Kapitel mit hunderten Toten.
Publiziert: 18.10.2018 um 11:24 Uhr
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Aktualisiert: 18.10.2018 um 11:57 Uhr
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Das Massaker von Tlatelolco: Neben Hunderten Toten wurden unzählige weitere Demonstranten Opfer von Gewalt von Polizei und Militär.
Foto: AP
Mario Widmer

Für die Welt der Geschichtenschreiber sind die schwarzen Fäuste von Tommie Smith und John Carlos, den beiden amerikanischen Sprintern, das Bild von Olympia 1968 in Mexiko. Fäuste des Protests. In den Himmel gereckt.

Für mich ist es der weisse Bauch eines etwa 16-jährigen und schwangeren Mädchens. Die junge Frau lag nackt auf einem Steintisch in einem Leichenkeller. Etwa sechs Einschusslöcher im Bauch. Die gebrochenen Augen noch offen. Es war keine Klage in diesen dunklen Augen. Das Mädchen schaute durch mich hindurch. Es lag zwischen etwa 20 oder 30 anderen Leichen. Alle erschossen. Ärzte nahmen Fingerabdrücke der Leichen, alles in einer Wolke von For­maldehyd. Meine Augen brannten.

Ich versprach diesem Mädchen, das heute etwa 66 Jahre alt wäre, dass ich es nie vergessen würde. Und darum schreibe ich diesen Text. In diesen Oktobertagen, an denen so viel über die schwarzen Fäuste von Tommie und John geschrieben wird und über die Zeit, als der Sport damit begonnen hat, sich zu emanzipieren. Für mich hat der Sport an jenem 2. Oktober 1968 seine Unschuld verloren.

Auf alles, was sich bewegte, wurde geschossen

Ich war für den BLICK in Mexiko. Wir hatten damals einen Korrespondenten in Mexico City, einen Schweizer. Er rief mich am frühen Nachmittag an: «In Tlatelolco, auf der Plaza de las Tres Culturas, protestieren heute Abend die Studenten von zwei Unis wieder gegen die Geldverschwendung der Spiele.»

Wir fuhren hin. Ein wunderbarer Platz. Eine Seite mit Ruinen der grandiosen Vergangenheit des Landes, Reste von Pyramiden aus der Zeit der Azteken, eine andere Seite feierte die Zeit der spanischen Eroberung, der Rest moderne ­Architektur, ein Regierungs­gebäude, ein paar luxuriöse Wohnblocks. Sternförmig führen Strassen aus allen Richtungen in den Platz.

Es nieselte in Tlatelolco, das dem Regengott Tlatelol gewidmet ist, doch bereits waren ein paar Tausend Jugendliche dort, die sich in Gruppen versammelt hatten, teilweise grosse Spruchbänder auspackten. Ich trennte mich von meinem Begleiter, versuchte mit Studenten ins Gespräch zu kommen. Die Dämmerung begann.

BLICK-Reporter Mario Widmer (links) 1968 mit dem französischen Journalisten Serge Lang.
Foto: Blick

Plötzlich drei grelle, grüne Lichtblitze. Und fast unmittelbar darauf das hackende Hämmern von Maschinengewehren. Schreie. Panik. Blut und Terror. Polizei, Militär schossen von den Hausdächern in die Menge. Aus allen Richtungen rollten Panzer auf den Platz, feuerten auf alles, was sich bewegte.

Zusammen mit einem italienischen Fotografen konnte ich in eines der Wohnhäuser flüchten. Im zweiten Stock öffnete sich eine Tür. Hinein in ein Büro. Zum Fenster, Uniformierte stürmten das Gebäude, sie traten die Türen ein, schossen ziellos mit ihren Maschinenpistolen in die Zimmer.

Ich sprang aus dem zweiten Stock hinunter. Zum Glück auf der Rückseite des Hauses. Rannte. Rannte. Und rannte. Erst als ich nicht mehr konnte, spürte ich, dass etwas mit meinem Rücken nicht mehr stimmte. Ein Taxi brachte mich zum Hotel.

Zwei oder drei Stunden später kam unser Korrespondent. Er sagte mir, die Presseabteilung Olympias hätte eine Mitteilung publiziert mit dem Hinweis, dass es in Tlatelolco zu einem Zwischenfall gekommen wäre. Und wahrscheinlich ein paar Demonstranten verletzt worden wären.

Wir waren in dieser Nacht in fünf, sechs Leichenkellern

Wir fuhren nach Tlatelolco. An einer Strassenecke eine sehr, sehr lange Schlange von Menschen. Es war der Eingang zu einem Leichenkeller. Die Menschen suchten nach ihren Kindern, die nicht nach Hause gekommen waren. Wir waren in dieser Nacht in fünf oder sechs weiteren Leichenkellern. In einem davor das schwangere Mädchen mit den Bauchschüssen.

Am nächsten Morgen die normale Pressekonferenz. Avery Brundage, der grosse Boss des IOC, bestätigte Tlatelolco. «Eine Demonstration. Wahrscheinlich hat es leider Opfer gegeben. Nein, natürlich finden die Spiele wie geplant statt.» Und dann sagte er, vier Jahre vor dem Attentat auf Olympia 1972 in München: «The games must go on.»

1998, dreissig Jahre später, gab es eine offizielle Untersuchung des Massakers von Tlatelolco. Ein ehemaliger Minister wurde verhaftet. Wieder auf freien Fuss gesetzt. Verjährung. Wahrscheinlich gab es 300 Tote, niemand soll genau gezählt haben.

Für wen auch? Für all jene, die von Tommie Smith und John Carlos sprechen, wenn die Rede auf 1968 und Olympia in Mexiko kommt?

Ich verspreche. Ich werde immer an die nackte und schwangere junge Frau erinnern, die mit den Bauchschüssen auf diesem steinernen Tisch lag. Es ist das, was mir von 1968 geblieben ist.

Mario Widmer

Widmer war 1968 für den BLICK bei den Olympischen Spielen in Mexiko.
Foto: Blick

Mario Widmer (77) schrieb als Sportchef und Chefreporter 34 Jahre lang für die Zeitungen SonntagsBlick und BLICK.

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