Frau Meyer, würden Sie heute überhaupt noch zu einer Heirat raten?
Karin Meyer: Kommt drauf an. Wenn man eine Familie mit klassischer Rollenteilung anstrebt, dann ist die Ehe sinnvoll. Wenn jemand zu Hause bleibt, seine Karriere hintanstellt und der andere arbeitet, führt die Ehe zu einem ausgewogenen Interessenausgleich. Ansonsten gibt es keinen zwingenden Grund zu heiraten. Aber machen wir uns nichts vor, die meisten heiraten ja nicht, weil sie sich denken, dass es jetzt wahnsinnig klug wäre, sondern aus emotionalen Gründen.
Was würden Sie einem Paar vor der Hochzeit raten?
Eine Beratung, in der sie die Konsequenzen kennenlernen und erfahren, wie es herauskommen könnte, wenn es schiefgeht. Eine Frau muss heute wissen: Wennsie mit 30 heiratet, aufhört zu arbeiten und sich mit 40 trennt, dann sagt das Gericht: Sie gehen jetzt wieder arbeiten. Deshalb muss man sich überlegen, ob es klug ist, zehn Jahre komplett auszusteigen.
Bei Ihnen klingt alles rational. Hat Ehe nichts mit Liebe zu tun?
Doch, aber das ist nicht mein Geschäft (lacht). Ich sagte ja bereits, die meisten Menschen heiraten nicht aus rationalen Überlegungen heraus. Aber aus anwaltlicher Sicht müsste man alle Heiratswilligen genau auf diese rationalen Risiken hinweisen.
Man müsste rationaler an die Ehe ran?
Ja. Ich fände es gut, wenn die Leute die Konsequenzen kennen würden. Sie unterschätzen, wie sich das Leben verändern kann.
Warum lassen sich nun die meisten Paare scheiden?
Warum es wirklich schieflief, kann ich in den meisten Fällen nicht sagen. Oft kommt natürlich: Er oder sie hat mich betrogen. Ob das aber die Ursache ist oder schon die Folge, ist schwer zu sagen. Warum sich eine Ehe so entwickelt hat, ist von aussen schwierig zu beantworten. Ich kann sagen, dass es zu langen Verfahren kommt, wenn jemand sehr gekränkt ist und keine Strategie hat, um über diese Trennung hinwegzukommen, oder wenn eine Partei grosse Angst hat.
Was für Anschuldigungen hören Sie am meisten?
So viel höre ich da nicht. In der ersten Besprechung erzählen die Klienten noch, was gewesen ist. Etwa: «Er war nie da für die Familie» oder «Sie sass eigentlich immer nur rum». Danach ist die Ursache für mich nicht mehr wichtig. Meine Aufgabe ist ja, eine Regelung zu finden, wie man es in Zukunft macht. Als Anwältin kann man nicht mehr ändern, was gewesen ist. Die Eheleute werden sich wahrscheinlich auch nie einig darüber sein. Aber das ist auch nicht nötig oder wichtig. Es geht darum, eine künftige Lösung zu finden.
Sie selber sind nicht verheiratet. Hat das mit Ihrem Job zu tun?
Ich würde sagen, es hat nichts mit dem Job zu tun. Es hat bis jetzt keinen Anlass gegeben zu heiraten.
Wie geht man damit um, dass man tagtäglich mit kaputten Familien zu tun hat?
Wahrscheinlich mit dem gleichen Mechanismus, den auch Ärzte haben. In der Krebsabteilung können sie auch nicht jedes Schicksal mit nach Hause nehmen. Es ist eine professionelle Distanz, die man entwickelt. Sonst macht man es nicht lange und nicht gut. Es ist der Vorteil des Anwalts, dass er nicht involviert ist und es rational sehen kann und muss.
Wer will häufiger die Scheidung?
Man sagt ja die Frauen. Aber bei meinen Klienten ist das ausgeglichen.
Würden Sie raten, dass man sich erst mal eine Zeit lang trennt oder sofort scheiden lässt?
Typische Anwaltsantwort: Es kommt drauf an. Das eine ist die emotionale Komponente: Wenn man sich noch nicht sicher ist, macht es keinen Sinn, sich gleich scheiden zu lassen. Aber es gibt auch finanzielle Interessen. Wenn der eine viel mehr verdient und viel mehr in die Pensionskasse einzahlt, ist es für den anderen besser, wenn er noch zwei Jahre getrennt lebt. Denn massgebend ist das, was man bis zur Einleitung der Scheidung gespart hat. Der klassischen Hausfrau würde ich raten, noch zu warten. Wenn ich den Mann vertreten würde, rate ich ihm, sich schnell scheiden zu lassen.
Haben Sie viele kinderlose Ehen, die Sie scheiden?
Es ist nicht die Mehrzahl. Bei kinderlosen Ehen arbeiten oft beide, und dann ist die Auflösung einfacher. Mit Kindern ist es komplizierter, die wirtschaftliche Verflechtung ist grösser, und man muss die Kinderbetreuung regeln.
Und man kann sich wegen der Kinder nicht ganz trennen.
Ja. Ein Paar ohne Kinder lässt sich scheiden und kann sagen: «Auf Wiedersehen.» Wenn sie kleine Kinder haben, stehen sie die nächsten 15 Jahre in intensivem Kontakt mit dem Ex-Partner. Ganz los wird man den anderen nicht mehr.
Moderne Familien wollen immer öfter die geteilte Obhut. 50:50 oder 60:40. Doch dieses Modell führt doch auch zu mehr Konflikten, oder?
Das merke ich stark. Je verzahnter die Betreuung ist, umso schwieriger ist es. Alternierende Obhut ist anspruchsvoll für die Erwachsenen, die sich immer absprechen müssen, und für die Kinder, die ständig den Ort wechseln müssen. Wollen wir jeden zweiten Tag woanders übernachten? Von Kindern erwartet man das, doch manche finden dieses Hin und Her vielleicht nicht so eine gute Idee. Ich habe mal ein 5-jähriges Kind vertreten ...
Ein 5-jähriges Kind?
Ja, ich mache auch Kindesvertretung. Das Gericht wendet sich an mich, wenn sich Eltern nicht einigen können. Als Vertreter spreche ich mit dem Kind, vermittle ihm, worum es geht, und finde heraus, was das Kind gerne hätte.
Wie alt muss das Kind sein?
Fragen kann man schon ganz Kleine, aber urteilsfähig sind Kinder etwa mit elf Jahren. Ab sechs Jahren haben alle Kinder das Recht auf Anhörung. Aber die meisten Kinder nehmen es nicht wahr.
Weil die Eltern das nicht wollen?
Die Eltern bekommen Briefe,aber ich kann Ihnen nicht garantieren, dass es nicht Eltern gibt, die sie nicht weiterleiten. Wenn Eltern sich aber nicht über die Betreuung streiten, haben Kinder oft auch keinen Anlass, ans Gericht zukommen. Eltern wollen ihreKinder auch schützen. Natürlich machen sie sich Sorgen, wenn es heisst, ihre Kinder müssen ans Gericht.
Okay, zurück zum 5-jährigen Mädchen. Was sagtees?
Es sagte zu mir: «Wissen Sie, es ist alles gut. Aber ich will einfach mindestens zwei Mal am Stück am selben Ort übernachten. Sonst ist das so mühsam.»
Eine funktionierende alternierende Obhut klappt nur bei Partnern, die gut miteinander auskommen.
Das macht es sicher viel einfacher. Meines Erachtens muss man das Motiv prüfen: Wollen die Eltern das, weil sie sich schon vorher beide um die Kinder gekümmert haben, oder will jemand nur weniger arbeiten und mehr betreuen, damit er weniger zahlen muss?
Ist «Bis dass der Tod unsscheidet» vielleicht veraltet? Bräuchten wir eher befristete Ehen, die nach einer Zeitablaufen?
Die Fragen, die man danach klären muss, sind die gleichen. Ob die Ehe nun automatisch zu Ende geht oder nicht. Dass man sich scheiden lässt, darüber streitet man ja nicht so oft. Umstritten sind die Konsequenzen.
Wundern Sie sich manchmal, wie man jemanden einmallieben konnte und plötzlich so hasst? Wie man die Vergangenheit so entwerten kann?
Ja das tue ich. Ich denke mir immer, man entwertet ja auch die eigene Vergangenheit. Das ist sehr schade. Wenn rückblickend plötzlich alles schlecht gewesen ist, ist das für einen selber schade.
Warum macht das der Mensch?
Ich bin keine Psychologin, aber ich stelle mir vor, es ist ein Schutzmechanismus vor Verletzungen. Man sagt sich einfach, es war schlecht, und dann muss man nicht so enttäuscht sein.
Sie haben viele Ehen kaputt gehen sehen. Glauben Sie, Gleich und Gleich gesellt sich gern? Oder: Gegensätze ziehen sich an?
Ich glaube, dass ähnlich einfacher ist, weil es weniger Kompromisse braucht. Wenn man sehr unterschiedlich ist, erfordert das ein dauerndes Ausbalancieren und Einigen – das stelle ich mir anstrengend vor.
Was kann Sie heute nochfrustrieren?
Aufwendige Verfahren nehmen die Leute stark mit, eine Scheidung dominiert oft ihr ganzes Leben und ist eine grosse Belastung. Kommt am Ende nichts «Richtiges» dabei heraus und alle sind unzufrieden, dann ist das nicht schön. Man hätte gerne eine Lösung, die alle zufriedenstellt. Oder zumindest meine Klienten.