Michelle Woringer (34) arbeitete 15 Jahre lang im 100-Prozent-Pensum. Seit Anfang Mai sind es nur noch vier Tage pro Woche – bei gleichem Einkommen. «Unser Arbeitgeber beweist Mut», sagt die Beraterin von Addvanto. Die Zürcher Marketing-Agentur hat als eine der ersten Schweizer Firmen die Viertage-woche eingeführt, und zwar richtig: Die 16 Angestellten arbeiten 34 Stunden pro Woche und erhalten den vollen Lohn.
«Corona hat der Arbeitswelt einen Schub verpasst», sagt Addvanto-CEO Stefan Planzer (51). «Homeoffice und digitale Technologien machen neue Modelle möglich.» Die harte Konkurrenz um Talente komme als Motiv hinzu. «Wir wollen attraktiv bleiben», sagt Planzer.
Seit einem Monat hat Michelle Woringer jeden Mittwoch frei. Den Effekt spürte sie sofort: «Der freie Tag entschleunigt die Woche. Ich kann Dinge erledigen und habe zudem mehr Zeit für mich. Das entlastet nicht nur das Wochenende, sondern auch die verbliebenen vier Arbeitstage.» Und das Wichtigste: «Es gibt Energie. Ich arbeite deutlich produktiver!»
Rest der Zeit muss produktiver werden
Dies sei entscheidend, sagt Stefan Planzer: «Wir wollen die Leistung nicht abbauen, sondern effizienter und fokussierter arbeiten. Zudem wollen wir wachsen und Arbeitsplätze aufbauen. Dann geht die Rechnung auf.»
Die lautet nämlich so: Wenn 20 Prozent Arbeitszeit wegfallen, müssen die restlichen Stunden produktiver werden. Sonst geht der Schuss finanziell nach hinten los. Planzer ist das bewusst: «Wir haben über Nacht eine Schere geöffnet. Wir haben weniger Ressourcen und höhere Kosten. Das machen wir mit noch mehr Klarheit und Effizienz wett.»
So nehmen an Meetings nur noch Mitarbeitende teil, die wirklich dort sein müssen. Die Tagesabläufe werden entschlackt und die Arbeitseinsätze der Teams gezielt aufeinander abgestimmt. Deshalb spürten auch die Kunden nichts von der Umstellung, so der Addvanto-Chef: «Der Betrieb läuft wie gewohnt an fünf Tagen pro Woche.»
Planzer betont: «Es ist kein Pilotprojekt. Wir wollen das wirklich.»
Spanien und Neuseeland testen schon
Wie die Isländer, die das Modell in einem grossen Experiment von 2016 bis 2019 getestet haben. Das Ergebnis: Die Angestellten konnten Beruf und Privatleben besser vereinbaren, waren gesünder und ausgeglichener. Das Risiko von Burnouts sank massiv. Und: Die Produktivität blieb gleich hoch oder verbesserte sich sogar. Heute haben neun von zehn isländischen Erwerbstätigen das Recht auf mindestens fünf Stunden weniger Arbeitszeit bei vollem Lohn.
In Frankreich gilt die 35-Stunden-Woche. Belgien verankerte unlängst die Vier-Tage-Woche mit 38 Arbeitsstunden im Gesetz. Spanien und Neuseeland lancierten umfangreiche Testprojekte. Und Grossbritannien plant für 2022 ein umfassendes Experiment.
In der Schweiz hat mittlerweile ein Dutzend Unternehmen die Vier-Tage-Woche eingeführt oder angekündigt – die Mehrheit dieser Vorreiter verteilt allerdings lediglich die bisherigen Arbeitsstunden auf vier statt auf fünf Tage.
Funiciello will 35-Stunden-Woche
SP-Nationalrätin Tamara Funiciello (32) will das ändern. Sie hat im Dezember eine Motion eingereicht, mit der sie die 35-Stunden-Woche in der ganzen Schweiz fordert – bei voller Bezahlung für Angestellte mit tiefen und mittleren Einkommen.
In einer Übergangszeit von zehn Jahren sei das problemlos möglich, sagt Funiciello. «Andere Länder haben längst bewiesen, dass es funktioniert. Die Produktivität steigt seit Jahrzehnten, aber in der Schweiz kriegen die Angestellten immer weniger vom Kuchen.»
Sie habe dabei auch die gesellschaftliche Dimension im Auge, sagt Funiciello: «Besonders Frauen leisten hierzulande jedes Jahr unbezahlte Care-Arbeit im Wert von 248 Milliarden Franken. Das kostet sie Erwerbszeit, weshalb sie im Schnitt ärmer sind und eine tiefere Rente erhalten. Wenn sie den vollen Lohn für 35 Wochenstunden erhalten, kriegen sie für ihre Care-Arbeit etwas zurück.»
Nicht alle Branche über einen Kamm scheren
Der Bundesrat lehnt die Motion ab: Es sei Sache der Branchen, die Produktivitätsgewinne zu verteilen. Funiciello bringt diese Haltung auf die Palme: «Wir sind doch nicht mehr im Industriezeitalter – wir müssen den Reichtum endlich gerecht verteilen!»
Anders sieht es Arbeitgeberpräsident Valentin Vogt (61): «Es ist nicht Aufgabe des Staates, derart starre Regeln zu fixieren. Wir stehen Firmen aber nicht im Weg, die alternative Modelle anbieten wollen. Doch das ist eben Sache der Firmen.» Denn die 35-Stunden-Woche funktioniere längst nicht in allen Branchen, so Vogt. «Besonders bei Jobs mit vorgegebener Präsenzzeit geht die Rechnung für die Unternehmen nicht auf. Sie können nicht 20 Prozent weniger Arbeitskraft mit 20 Prozent mehr Produktivität kompensieren.»
Adrian Ritz (52), Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Uni Bern, ist ebenfalls zurückhaltend, was eine gesetzliche Regelung betrifft. Er sagt aber auch: «Für die Angestellten hat die Vier-Tage-Woche zweifellos viele Vorteile. Besonders bei kreativen und wissensbasierten Berufen kann dieses Modell die Produktivität steigern.» Ritz regt grosse Tests wie in Island an, die unterschiedliche Berufe vergleichen. Der Zeitpunkt sei günstig: «Die Pandemie hat die Experimentierfreude erhöht.»