Frau Onken, Frau sein ist oft etwas anstrengend. Ist das normal?
Julia Onken: Wie meinen Sie das?
Alle schauen auf einen, man sollte keine Fehler machen...
Frauen sind heute grundsätzlich in einer schwierigen Position. Auf der einen Seite wollen sie ihre Kompetenzen leben und zwar perfekt. Dabei wollen die meisten Frauen noch gut aussehen. Das ist ein wahnsinniger Stress.
Will das der Mann nicht?
Nein! Männer haben von ihrer Mutter ein Grundvertrauen mitbekommen. Die Mutter sieht das Büebli mit einem eigenartigen Glanz in den Augen an. Dieser sagt ihm: Ich bin wunderbar. Man muss nur einmal in ein Strandbad gehen und schauen, wie die Männer durch die Gegend spazieren. Nämlich mit dem Gefühl: Ich bin grossartig. Doch es gibt nur wenige, die diesen Anspruch geltend machen könnten. Das ist in ihnen drin. Beim kleinen Mädchen ist das nicht so.
Wie ist es da?
Vermittelt der Vater dem kleinen Mädchen das Gefühl «So, wie ich bin, bin ich in Ordnung», hat sie auch ein Grundvertrauen. Aber das Mädchen muss früh etwas veranstalten, auf sich aufmerksam machen. Und es lernt schnell, dass die äussere Erscheinung eine sichere Schiene ist, mit der es garantiert Aufmerksamkeit bekommt. Das sitzt in uns drin. Je mehr wir uns dessen bewusst sind, desto besser. Nur so gelingt es uns, damit umzugehen und das Problem zu lösen.
In Ihrem aktuellen Buch geht es um das fehlende Selbstwertgefühl der Frauen. Sind Sie immer selbstbewusst gewesen?
Ich hatte eine Mutter, die mir dieses Gefühl gegeben hat, es ist wunderbar, wie du bist. Aber ich hatte einen Vater, der bei meiner Geburt 64 war, bereits einige Töchter hatte. Für ihn war ich nicht interessant. Das war meine Ausgangslage. In Frauen habe ich ein unerschütterliches Vertrauen. Deswegen arbeite ich mit Frauen. Die fehlende Resonanz des Vaters habe ich früher versucht mit äusserlicher Attraktivität zu befriedigen. Mit 18 Jahren habe ich mich aufgebröselt, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Aber ein grosser Busen ist nicht abendfüllend. So habe ich erlebt, wie das in die Wüste führt.
Selbstbewusstsein hat doch viel mit dem Alter und mit Erfahrung zu tun.
Das kann ich bestätigen. Ab einem gewissen Alter merkt die Frau eben, dass diese äusserlichen Faktoren nicht mehr funktionieren. Dann kommt sie erst in eine Krise, gleichzeitig wirft es sie auf sie selber zurück. Das ist das Beste, was ihr passieren kann. Dann kommt die Gelassenheitsphase.
Man hadert doch gerade, wenn man jung ist. Dann sollte man Selbstvertrauen haben.
Absolut richtig. Ich würde mir auch wünschen, wir Frauen hätten es schon früher. Selbstbewusstsein ist das A und O. Wenn Frauen dieses Selbstbewusstsein nicht zurückerobern, bleiben sie auf der Strecke.
Auch wenn Frauen höchste Leistung erbringen, zweifeln sie immer noch.
Sie spielen etwas runter, wollen sich nicht in den Vordergrund drängen. Sie machen sich mieser. Natürlich immer mit dem Wunsch, dass jemand entgegnet: Doch, du hast das fantastisch gemacht! Und Frauen wollen keinen Neid erregen.
Frauen haben auch Angst, dass sie arrogant wirken.
Ja, aber zu dem stehen, was man kann, gehört auch zu einem guten Selbstbewusstsein. Genauso wie zu sagen, was man nicht so gut kann. Wenn ich Politiker frage: Warum habt ihr nicht mehr Frauen?, sagen sie: Wir wollen ja, aber die Frauen trauen es sich nicht zu. Das erlebt man bei den Männern nicht. Haben Sie schon mal einen Mann erlebt, der einen Job angeboten bekommt, vielleicht eine Nummer zu gross, und sagt: «Oh nein, das traue ich mir nicht zu»?
Nein.
Eben. Da muss noch viel passieren.
Sind Frauen also selber schuld?
Wir müssen von Schuldgefühlen sprechen. Die meisten Frauen kennen sie. Frauen fühlen sich immer schuldig. Es ist noch nicht lange her, dass man einer Frau, die vergewaltigt wurde, sagte, sie sei selber schuld. Sie habe den Mann mit ihrem Ausschnitt oder kurzen Rock verführt. Die Frau ist immer schuld, auch wenn der andere übergriffig wurde. Das sitzt tief in uns drinnen. Aus dieser Falle kommen wir nur, wenn uns das bewusst ist und wenn wir es klar benennen können.
Sie schreiben: Auch wenn schon viel erreicht wurde, Frauen müssen sich weiter für ihre Rechte einsetzen. Es wirkt manchmal so, als ob junge Frauen zu faul oder egoistisch sind zum Kämpfen.
Das stimmt. Aber die Rechnung geht langfristig nicht auf. Wenn junge Frauen heute sagen, sie wissen nicht, was die alten Feministinnen noch wollen, ich hab doch alles, kann jeden Beruf ergreifen, sage ich: Ja, das stimmt. Das haben wir für euch erkämpft. Aber das ist erst die halbe Strecke. Es kommt darauf an, ob die Frau den Beruf ausüben kann, ob sie ihn mit Familie kombinieren kann. Oder ob sie sich entscheiden muss: Beruf oder Familie? Dann ist die Falle schon wieder zu. Solange es uns nicht gelingt, dass selbstverständlich ist, dass eine Frau berufstätig ist und Mutter sein kann, so lange ist das mit der Emanzipation eine Farce.
Schon 2001 haben Sie ein Buch über Selbstbewusstsein geschrieben. Sind Sie es nicht leid, dass sich nichts ändert?
Es ändert sich etwas. Verglichen mit vor 20 Jahren sind Frauen im mittleren Alter nicht mehr bereit, sich unterbuttern zu lassen. Ich spreche die Wechseljahre an. Es gibt ein neues Selbstbewusstsein. Eine weitere Veränderung sehe ich bei den jungen Männern. Die Unterstützung von der männlichen Seite ist sehr wichtig. Viele junge Väter setzen sich mit dem Thema auseinander. Das hat eine Auswirkung auf die Beziehung und das Selbstbewusstsein der Frauen. Aber: Grundsätzlich gibt es noch viel zu tun.
Was machen Frauen falsch?
Sie hören zu wenig auf sich. Und: Sie müssen mit Frauen sprechen. Jede Frau braucht eine beste Freundin. Durch sie kann sie viel korrigieren. Die beste Freundin ist oft die beste Therapeutin.
Sie sagen auch, Frauen sehen sich zu oft als Opfer.
Natürlich. Wir waren lange Opfer, also abhängig. Diese Rolle haben wir so gut gelernt, dass wir sie manchmal auch noch spielen, wenn sie gar nicht mehr nötig ist. In der Opferrolle wird man bemitleidet. Manchmal muss man sagen: Ja, du warst Opfer, aber jetzt ist es vorbei. Jetzt kannst du selber die Zügel in die Hand nehmen.
Wie können Frauen stark sein, wenn sie unter Minderwertigkeitskomplexen leiden? Und was hat das mit dem patriarchalen System zu tun?
Das patriarchale Gesellschaftssystem ist dazu da, Frauen zu entmündigen, sie klein zu machen. Die Geschichte unserer Mütter und Grossmütter lagert noch in unseren Zellen. Die Zeit der patriarchalen Episoden ist noch in uns. Dazu kommt erschwerend – ich muss es leider sagen – die Einwanderung. Wir haben Kulturen mit patriarchalen Systemen, die bei uns einwandern. Dass wir das einfach so hinnehmen, ist gefährlich. Diese Menschen leben hier mit ihrem Wertesystem. Wir müssen anfangen, Regeln aufzustellen. Wer in dieser Gesellschaft lebt, muss sich an sie halten.
Ist es nicht zu einfach, alles auf die Migration zu schieben?
Das darf man nicht. Ich kann mir vorstellen, dass der eine oder andere Schweizer denkt, den Frauen muss man wieder mal zeigen, wo der Hammer hängt. Dieser Renaissance des Patriarchats muss Einhalt geboten werden.
Haben Sie Angst, dass das Gewaltthema in ein Anti-Ausländer-Thema kippt?
Das wäre schlecht und zu einfach. Dann hätten wir keine differenzierte Diskussion.
Heute sprechen wir oft über Frauenrechte. Was halten Sie vom heutigen Feminismus?
Das ist eine schwierige Frage. Feminismus zeigt sich in diversen Facetten. Das ist gut, so schläft das Thema nicht ein. Ich denke aber oft, da schwappt es in die Richtung Selbstverwirklichung zu jedem Preis.
Sie klingen nicht überzeugt.
Einerseits sind die Versuche von jungen Frauen, dass sie sich selber artikulieren und darstellen wollen, zu respektieren. Andererseits schrammt es etwas am Ziel vorbei. Feminismus meint Frauenrechte. Wenn Frauen Unterwäsche aufhängen und das als Feminismus verkaufen, frage ich mich, ob das nicht eher eine Fasnachts-Veranstaltung ist. Emanzipation verwässert, wenn unter dem Deckmantel von Feminismus eine eigenartige Einstellung von Selbstbestimmung mitsegelt und an die oberste Stelle gesetzt wird. Das kommt meistens aus dem linksparteipolitischen Lager. Ich bin aber gelassen und denke, das wird sich nicht halten können.
Die Attacke auf Frauen in Genf, Grapsch-Aktionen an der Street Parade in Zürich. Was sollen wir Frauen nun tun?
Das sind Wachrüttler: Jetzt muss etwas passieren! Die Gewalt gegen Frauen ist das Ende der Fahnenstange einer patriarchalen Flagge. Wir müssen schon viel früher, wo es noch nicht in Gewalt auswirkt, sondern verbal oder in einer entwürdigenden Haltung, Einhalt gebieten. Klipp und klar – und auch wenn es mich nicht betrifft. Wir haben schon viel durchgehen lassen. Ich fordere einen Aufstand der Frauen, in dem sie solidarisch miteinander sind.
Glauben Sie, dass es zu einem Graben zwischen den Geschlechtern kommt?
Nein. Heute finden sich junge Männer schon zurecht in der Umstellung. Im Kampf um Gleichwertigkeit haben wir auch von der Männer-Seite gute Unterstützer. Sie haben auch einen Vorteil.
Welchen?
Eine emanzipierte Frau macht nicht ihren Mann für ihr Glück verantwortlich. Sie schaut auf sich selbst. Er wird entlassen aus dieser unsäglichen Zange: Du musst mich doch glücklich machen!
Was muss erreicht sein, damit Sie zufrieden sind?
Wenn es so selbstverständlich ist, dass wir nicht mehr darüber reden müssen. Wenn wir uns mit dringenden Themen beschäftigen können. Mit dem Klimawandel etwa.
Glauben Sie, dass Sie das noch erleben?
Vielleicht, dass wir weniger darüber reden. Es gibt inzwischen zu viele Menschen, denen das wirklich ein Anliegen ist.
«Mit dem Herzen der Löwin» von Julia Onken erscheint am 28. August im C. H. Beck Verlag.
Julia Onken, 1942 geboren, ist Buchautorin, Psychologin und Gründerin des Frauenseminars am Bodensee. Ausserdem ist Onken eine Ikone des Feminismus. Sie arbeitete als Bewährungshelferin im Strafvollzug und als Psychotherapeutin mit eigener Praxis. Nach ihrer Scheidung gründete sie 1987 das Frauenseminar. Später schrieb sie zahlreiche Sachbücher. In ihrem aktuellsten Werk analysiert sie die Gründe weiblicher Selbstentwertung und gibt Ratschläge, wie Frauen ihre verlorene Stärke zurückgewinnen können. Julia Onken hat zwei Töchter, ist verheiratet und lebt im Thurgau.
Julia Onken, 1942 geboren, ist Buchautorin, Psychologin und Gründerin des Frauenseminars am Bodensee. Ausserdem ist Onken eine Ikone des Feminismus. Sie arbeitete als Bewährungshelferin im Strafvollzug und als Psychotherapeutin mit eigener Praxis. Nach ihrer Scheidung gründete sie 1987 das Frauenseminar. Später schrieb sie zahlreiche Sachbücher. In ihrem aktuellsten Werk analysiert sie die Gründe weiblicher Selbstentwertung und gibt Ratschläge, wie Frauen ihre verlorene Stärke zurückgewinnen können. Julia Onken hat zwei Töchter, ist verheiratet und lebt im Thurgau.