In der Schweiz blitzte Asbest-Opfer Renate Howald Moor mit Schadenersatzklagen ab
Sie hat Strassburg 
viel zu verdanken

Asbest-Geschädigte hatten vor Gericht keine Chance – wegen der Verjährungsfrist. Bis der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte der Witwe Renate Howald Moor recht gab.
Publiziert: 11.11.2018 um 13:09 Uhr
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Renate Howald Moor (69) verlor vor 13 Jahren ihren Mann an Krebs – ausgelöst durch Asbest.
Foto: Thomas Meier
Rebecca Wyss (Text) 
und Thomas Meier (Foto)

In der heissen Phase des Abstimmungskampfes um die Selbstbestimmungs-Initiative ist die Europäische Menschenrechtskonvention in aller Munde.

Wer sich von der Justiz in seinem Heimatland ungerecht behandelt fühlt, kann sich an den Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg wenden. Als letzte Instanz darf er auch Entscheide des Schweizer Bundesgerichts kippen – zwei- bis dreimal im Jahr tut er das. Wird die Vorlage in zwei Wochen angenommen, steht diese Möglichkeit auf dem Spiel. Genau das macht Renate Howald Moor Sorgen. «Ohne den Menschenrechtsgerichtshof hätten wir keine Chance gehabt, zu unserem Recht zu kommen», sagt sie. «Wir», das sind die 69-Jährige selbst, ihr verstorbener Ehemann Hans Moor und seine beiden Töchter. «Wir» steht aber auch für sämtliche Asbestopfer und deren Angehörige in der Schweiz.

Hans Moor wurde bewusst, dass er der Nächste sein würde

Renate Howald Moor erinnert sich noch genau an den Tag im Jahr 2003, an dem sie zum ersten Mal spürte, dass mit ihrem Mann etwas nicht stimmte.

Sie waren auf einer Wanderung im Wallis, als Hans immer wieder Pause machen musste. Er, der sonst so sportlich war, bekam keine Luft mehr. «Auf der Heimfahrt war es totenstill im Auto», erzählt sie. Ihm musste bewusst geworden sein, dass er wohl der Nächste sein würde. Damals waren bereits die ersten ehemaligen Arbeitskollegen an Krebs erkrankt und gestorben.

Das will die Vorlage

Die SVP-Volksinitiative «Schweizer Recht statt fremde Richter», über die am 25. November ab­gestimmt wird, will
die Bundesverfassung partout über internatio­nales Recht stellen. Dazu gehören die Europäische Menschenrechtskonven­tion (EMRK), deren rechtsprechendes Organ der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg (F) ist, aber auch Hunderte internationaler Verträge wie die bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der EU oder WTO-Handelsverträge. 

Die SVP-Volksinitiative «Schweizer Recht statt fremde Richter», über die am 25. November ab­gestimmt wird, will
die Bundesverfassung partout über internatio­nales Recht stellen. Dazu gehören die Europäische Menschenrechtskonven­tion (EMRK), deren rechtsprechendes Organ der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg (F) ist, aber auch Hunderte internationaler Verträge wie die bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der EU oder WTO-Handelsverträge. 

Sie alle hatten bis 1978 in 
der Maschinenfabrik Oerlikon ge­arbeitet, die heute Alstom heisst. Hans Moor war für die Revision von Dampfturbinen zuständig – und die waren mit Asbest verkleidet. 26 Jahre später hielt er, erst 58 Jahre alt, den definitiven Befund in Händen: Lungenkrebs – ausgelöst durch Asbest. Der Stoff, von dessen Gefährlichkeit die Suva bereits Ende der 1940er-Jahre wusste. Der Stoff, der 1995 in der Schweiz verboten wurde.

Bei allen Instanzen abgeblitzt

Für Hans Moor war es zu spät. Er verstarb am 10. November 2005. Noch zu Lebzeiten reichte er Klage gegen den Arbeitgeber ein. Nach seinem Tod kämpften Frau und Töchter weiter – und blitzten mit ihren Schadenersatzklagen bei allen Instanzen ab. Es lag an der geltenden Verjährungsfrist von zehn Jahren.

Erst der Menschenrechtshof in Strassburg gab der Familie 2014 recht. Sie sollte ein faires Verfahren bekommen dürfen. Dies aber sei nicht möglich, wenn bei einer Krankheit, die 20 bis 40 Jahre nach dem letzten Kontakt mit einem Schadstoff ausbricht, die Verjährungsfrist so kurz ist.

Ihren Kampfgeist hat Howald Moor bis heute nicht verloren. Unermüdlich reist sie auf Einladung von Stadt zu Stadt, von Podium zu Podium, berichtet vom Leiden ihres Mannes, von der Bedeutung des 
Gerichtshofs für die Asbestopfer.

Renate Howald Moor geht es um Gerechtigkeit

Sogar an seinem gestrigen 
Todestag stellte sie sich den Fragen einer Journalistin. Allen Anfeindungen aus der Bevölkerung zum Trotz, die sie in den letzten Jahren ertragen musste. Es hiess, sie sei doch nur auf Geld und 
Publizität aus. «Geld war mir immer egal», sagt sie. Ihr gehe es um Gerechtigkeit. «Und die ist durch die Selbstbestimmungs-Initia­tive in Gefahr.»

Fakt ist: Nach dem Strassburger Urteil schuf der Bund den Entschädigungsfonds für Asbestopfer; das Parlament verdoppelte die Verjährungsfrist bei Personenschäden auf 20 Jahre. Und 
Familie Moor hat mit den Angeklagten einen Vergleich erzielt.

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«Auch in Zukunft wird der Entscheid aus Strassburg bedeutend sein», sagt Schaden­anwalt Martin Hablützel, der 
seit Jahren Asbestopfer vertritt: «Neue Technologien wie Handystrahlung, Nanopartikel oder Gentechnologie könnten ebenfalls Spätschäden verursachen. Jeder kann also zum Opfer werden.»

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