Eine Kategorie mit unscharfen Grenzen
Welche Staaten sind Demokratien?

Derzeit wird darüber diskutiert, Schweizer Waffen nur noch an demokratische Länder zu liefern. Doch was macht eigentlich eine Demokratie aus?
Publiziert: 05.06.2022 um 10:01 Uhr
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Welche Merkmale machen eine Demokratie aus? Nationalratssaal im Bundeshaus in Bern.
Foto: zVg
Michael Strebel*

Vielleicht beginnen Sie nun eine Aufzählung: die Schweiz natürlich, dann die USA, Nordkorea hingegen werden Sie kaum nennen, Russland wohl auch nicht, China?

Verschiedene Politiker diskutieren über eine neue Regelung der Schweizer Rüstungsexporte. Nach deren Idee sollen Waffen nur noch an Demokratien geliefert werden dürfen bzw. nur demokratische Länder sollen Schweizer Waffen weitergeben dürfen. Eine interessante Idee, die eine noch interessantere Frage aufwirft: Was ist eigentlich eine Demokratie? Welche Merkmale muss sie aufweisen?

Es gibt Wissenschaftler, die propagieren, dass ein Staat eine Demokratie sei, wenn die Regierung durch eine Wahl ausgetauscht werden kann. Als einziges Kriterium. Nun, der russische Präsident wird durch das Volk direkt gewählt. Theoretisch hätte bei der letzten Wahl auch jemand anderes als Putin gewählt werden können. Theoretisch! Das Beispiel zeigt, warum diese Minimalanforderung auf Widerspruch stösst. Weitere Kriterien sind folglich nötig und ausserdem deren Messung.

Vier Stufen der Demokratie

Der Demokratie-Index wird seit 2006 erstellt und liefert eine Momentaufnahme des Zustands der Demokratie. Er deckt fast die gesamte Weltbevölkerung ab und basiert auf fünf Kategorien: Wahlverfahren und Pluralismus, Funktionsweise der Regierung, politische Beteiligung, politische Kultur und bürgerliche Freiheiten. Auf der Grundlage der Ergebnisse wird jedes Land in eines von vier Regimen eingestuft: vollständige Demokratie, mangelhafte Demokratie, hybrides Regime oder autoritäres Regime.

Nur gerade 21 Länder haben derzeit den Status einer vollständigen Demokratie (Anzahl abnehmend), darunter die Schweiz, die skandinavischen Länder und Taiwan – die USA nicht mehr. Diese befinden sich zusammen mit 51 anderen Ländern (darunter Spanien, Italien, Brasilien) in der Gruppe der mangelhaften Demokratien. In dieser Kategorie sind die Wahlen zwar frei und grundlegende Bürgerrechte gewährt, jedoch bestehen gewisse Probleme, zum Beispiel Verletzungen der Medienfreiheit, (geringfügige) Unterdrückung politischer Opposition. Hybride Regime sind Staaten mit regelmässigen Wahlbetrügereien. In diesen Staaten üben die Regierungen Druck auf Opposition und Medien aus, die Justizbehörden sind nicht unabhängig etc. 34 Länder werden zu dieser Kategorie gezählt, darunter Tunesien, Mexiko, Hongkong.

Die grösste Anzahl der Länder – 54 an der Zahl – sind autoritäre Regime: Russland wird hier ebenso eingeordnet wie Nordkorea oder China. Nach diesem Demokratiemassstab lebt weniger als die Hälfte der Weltbevölkerung (45 Prozent) in irgendeiner Form von Demokratie. Noch weniger Menschen, nur rund 6 Prozent, leben in einer vollständigen Demokratie, und dieser Anteil ist zudem rückläufig.

Eine Minderheit lebt in freien Ländern

Der «Freedom House»-Index teilt die Länder als frei, teilweise frei oder unfrei ein. Diese Liste beleuchtet seit 50 Jahren die Entwicklung der politischen Rechte (Wahlen, Pluralismus, Partizipation, Funktionsweise der Regierung) und der bürgerlichen Freiheiten (Glaubens-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit, individuelle Freiheit). Gemäss dieser Auswertung leben noch 35 Prozent der Menschen in freien Ländern – stetig weniger.

Es gibt Wissenschaftler, die den beiden (und weiteren) Indizes kritisch bis ablehnend gegenüberstehen, da es schwierig sei, Demokratien zu messen. Vielmehr sei es wichtig, sich mit den konkreten Ländern vertieft und umfassend auseinanderzusetzen. Andere wiederum befürworten die Skalen, weil sie längerfristige Aussagen zur Demokratieentwicklung in den jeweiligen Ländern erlauben.

Demokratien zeichnen sich durch politische Institutionen, eine unabhängige Justiz und freie Medien aus. Bevölkerung und Zivilgesellschaft beteiligen sich. Zusammenspiel und Kräfteverhältnis sind nicht statisch. Das ist normal. Problematisch wird es, wenn dauerhafte Veränderungen zulasten einer der oben genannten Kräfte gehen.

Schleichender Übergang in die Unfreiheit

Heute gilt: Die Ausfuhr von Kriegsmaterial wird nicht bewilligt, wenn das Bestimmungsland «Menschenrechte schwerwiegend und systematisch verletzt». Dies aber ist der Kulminationspunkt einer Entwicklung. Die Kunst besteht darin, so früh wie möglich die schleichenden Übergänge zu einem unfreien Land zu erkennen, daran die notwendigen politischen Handlungsweisen zu definieren und konsequent zu handeln – nicht erst im Fall der gewaltsamen Auseinandersetzung. Eine stetige Analyse und eine andauernde gesellschaftliche Wachsamkeit sind gefragt. Es sind auch (vermeintlich kleine) Systemveränderungen, die etwas über den Charakter und Zustand eines politischen Systems aussagen – beispielsweise wenn die begrenzte Amtszeit des Präsidenten verlängert (Russland) oder sogar aufgehoben (China) wird.

Sie sehen, die Beurteilung, ob ein Land eine Demokratie ist, kann unterschiedlich ausfallen, und das Ergebnis der Überprüfung muss immer wieder neu ausgewertet werden. Demokratie als Kriterium für Waffenexporte – eine Idee, die es wert ist, diskutiert zu werden. Sie bedingt aber, zunächst die Kriterien festzulegen, nach denen ein Land eine Demokratie ist und wer diese beurteilt.

Eindeutig ist nur eines: Je mehr Kriterien, desto kürzer dürfte die Liste von demokratischen Staaten ausfallen.

* Michael Strebel ist promovierter Politikwissenschaftler mit Schwerpunkt Parlamentarismus und politische Systeme. Er arbeitet für verschiedene Parlamente und hat Lehraufträge an der Fernuniversität Hagen sowie der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin.

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