Wegen neuer Richtlinie wartet der kleine Luca seit Monaten auf einen Spital-Termin
«Er hat eine schlimme Mittelohrentzündung – und es wird immer schlimmer»

Sabrina M. (33) ist besorgt: Ihr eineinhalbjähriger Sohn Luca leidet seit sechs Monaten an einer Mittelohrentzündung. Für weitere Abklärungen muss er monatelang auf einen Termin im Spital warten. Der Grund: Eine neue Weisung für Kinder-Anästhesien.
Publiziert: 09.01.2024 um 01:00 Uhr
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Aktualisiert: 09.01.2024 um 08:12 Uhr
Sabrina M. (33) macht sich Sorgen um ihren eineinhalbjährigen Sohn Luca. Seit sechs Monaten plagt ihn eine schmerzhafte Mittelohrentzündung.
Foto: Siggi Bucher
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Der eineinhalbjährige Luca M.* leidet: Seit sechs Monaten plagt ihn eine schmerzhafte, bakteriell bedingte Mittelohrentzündung. Inzwischen testet die Familie aus Kloten ZH das dritte Antibiotikum. Aber es sammelt sich immer mehr Flüssigkeit im Mittelohr an. Mutter Sabrina M.** (33) macht sich Sorgen: «Er hat eine schlimme Entzündung – und es wird immer schlimmer! Das Trommelfell ist extrem entzündet und es eitert», sagt sie zu Blick.

Vor kurzem überwies der Kinderarzt Luca an einen Hals-Nasen-Ohren-Experten. «Es ging um eine Besprechung, ob Luca ein Paukenröhrchen erhält und ob seine Mandeln wegmüssen.» Die winzigen Röhrchen werden ins Trommelfell eingesetzt, damit Flüssigkeit besser abfliessen kann. Für die Prozedur wäre eine Anästhesie zum Einsatz gekommen – und ausgerechnet die sorgt jetzt für Aufregung.

Neue Richtlinien

Zwei Tage vor dem Termin sagt der HNO-Experte der Familie nämlich ab. Der Grund: Eine neue Richtlinie für Kinderanästhesien. «Gemäss dieser sei Luca zu jung, um in seiner Praxis behandelt zu werden.»

Die Schweizer Gesellschaft für Anästhesiologie und Perioperative Medizin (SSAPM) hatte bereits per 1. Januar 2020 ihre Richtlinien revidiert.«Gemäss diesen sollten Kinder unter drei Jahren mit Anästhesierisiken – HNO-Eingriffe gehören dazu – nur in Spitälern mit spezialisierter Kinderanästhesie und Intensivpflegestation versorgt werden», sagt Stefan Roth Facharzt Kinder- und Jugendmedizin und vom Verband Kinderärzte Schweiz.

Mit dieser Empfehlung soll die Sicherheit der kleinen Patienten erhöht werden. Nebenwirkung: Betroffene Kinder müssten in Kinderspitäler statt zum Arzt.

Der HNO-Experte überweist auch Familie M. im November ans Kinderspital Zürich. Dort der Schock: «Laut einer Mitarbeiterin müssten wir mindestens vier Monate warten», sagt die Mutter.

Spitäler schweizweit betroffen

Denn die neue Richtlinie hat es auch per 1. Januar 2023 in die Zürcher Spitalliste zur Sicherstellung der Patientensicherheit geschafft. Im Kinderspital Zürich ist es dadurch laut Urs Rüegg, Leiter Stab der Geschäftsleitung in verschiedenen Bereichen zu Wartezeiten gekommen. Das Ausmass sei unterschiedlich: «Im HNO-Bereich beträgt die Wartezeit aktuell mehrere Wochen. Anfang 2023 kam es situativ zu Wartezeiten bis zu vier Monaten.»

Die neue Weisung sorgt auch in anderen Schweizern Spitälern für Probleme: Für die Kinderklinik Bern – die zur Insel Gruppe gehört – gibt Sprecher Daniel Saameli eine Wartezeit von bis vier Monaten an, allerdings werden Kinder aufgrund der Dringlichkeit der Operation priorisiert. Im Ostschweizer Kinderspital beträgt die Wartezeit laut Thomas Krebs, Chefarzt Chirurgie, zwei bis drei Monate im HNO-Bereich.

Am Kinderspital Basel (UKBB) hat die Richtlinie laut Thomas Erb, Chefarzt Anästhesiologie, zwar direkt keinen Einfluss gehabt, weil die Kleinkinder bereits seit Jahren hierher überwiesen und anästhesiert werden. Doch: Weil HNO-Eingriffe besonders in den Herbst- und Wintermonaten gemacht werden, sei es auch hier saisonal zu einer Häufung und somit zu einer etwas höheren Wartezeit gekommen.

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Sabrina M.** (33) macht sich Sorgen um ihren eineinhalbjährigen Sohn Luca*. Seit sechs Monaten plagen ihn schmerzhafte Mittelohrentzündungen.
Foto: Siggi Bucher

Erste Massnahmen

Trotz Patienten-Flut stellen die Kinderspitäler klar: In dringenden Fällen wird für die kleinen Patienten Platz geschaffen. Gleichzeitig haben erste Spitäler Massnahmen ergriffen, um die Wartezeit zu reduzieren. So etwa das Kinderspital Zürich. Rüegg: «Wir haben – insbesondere im HNO-Bereich – mehr Personal eingestellt. Die Wartezeit konnte bereits verkürzt werden.» Sabrina M. hat eine Konsultation Mitte Januar 2024 erhalten – zwei Monate nach der Überweisung.

Trotz aller Schwierigkeiten verteidigen die Spitäler die Richtlinie: «Kinderanästhesien sind Risikoeingriffe», sagt Krebs vom Ostschweizer Kinderspital. Und: «Kinder sind nicht nur kleiner, leichter, sondern anders proportioniert – die sehr kleinen Atemwege sind anfällig für Schwellungen und Verlegungen durch Schleim oder Sekret.» Nicht alle Kliniken hätten das Equipment, die Expertise oder das geübte Personal, um beispielsweise bei Reanimationsfällen adäquat reagieren zu können.

Gleichzeitig wünschen sich die Spitäler mehr Zeit, um die Richtlinien umzusetzen. «Spezialisierung ist gut, aber die Spitäler müssen die Chance erhalten, es dann auch so steuern zu können, dass es gut kommt», sagt Krebs.

Keine Zahlen

Welchen Einfluss die Anästhesie-Richtlinien in Bezug auf Komplikationen bei Kleinkindern hatten, können die Spitäler nicht sagen. Chefarzt Erb vom UKBB weist darauf hin, dass mit aktuellen Observationsstudien eine Reduzierung der Komplikationen belegt werden konnte.

Die Schweizer Gesellschaft für Anästhesiologie und Perioperative Medizin selbst verfügt über keine Zahlen, die eine Veränderung der Komplikationsrate aufzeigen würden. Das Zeitintervall sei zu kurz, um eine datengestützte Antwort geben zu können, heisst es auf Anfrage.

Zwar spreche die SSAPM die Anästhesie-Empfehlung aus, es sei jedoch jedem Kanton überlassen, inwiefern die Richtlinien übernommen werden.

Auch Mutter Sabrina M. hat Verständnis für die neue Richtlinie. Einen Termin hat Luca in zehn Tagen – hoffentlich ist seine Leidensgeschichte dann vorbei.

*Name geändert
**Name bekannt

Transparenz: Die Protagonistin in dieser Geschichte ist verwandt mit Blick-Nachrichtenchef Flavio Razzino.

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