Projekt Hospital at Home
Jetzt kommt das Spital zur Patientin nach Hause

Sonja Rindlisbacher wird mit akuter Lungenerkrankung in den eigenen vier Wänden behandelt. Ist das Zuhause das Spital der Zukunft? Eine Betrachtung aus verschiedenen Blickwinkeln.
Publiziert: 14:41 Uhr
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Aktualisiert: 14:49 Uhr
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Patientin Sonja Rindlisbacher, 65, wird in ihrem Daheim statt im Spital behandelt.
Foto: Sophie Stieger

Darum gehts

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Birthe Homann
Beobachter

In den eigenen vier Wänden gesund werden: In über 30 Ländern weltweit ist das Modell Hospital at Home (Spital zu Hause) bereits etabliert. Hierzulande hingegen steckt es noch in den Kinderschuhen. Als erstes Spital testete das Modell das Spital Zollikerberg. Das Pilotprojekt «Visit – Spital Zollikerberg Zuhause» wird bald in den Regelbetrieb überführt.

Die zentralen Fragen beim neuartigen Modell Hospital at Home lauten: Ist das Krankenhaus zu Hause besser für die Patientinnen und Patienten? Senkt es die Gesundheitskosten? Ist das die integrierte Versorgung, von der alle reden? Spoiler: zweimal «ja», einmal «jein». 

Die Patientin

«Keine schnarchende Zimmernachbarin und im eigenen Bett schlafen» – darum hat sich Patientin Sonja Rindlisbacher für «Hospital at Home» entschieden. Ein Haken am Buffet dient als Infusionshalter.
Foto: Sophie Stieger

Sonja Rindlisbacher, 65, ist eine dieser Patientinnen und Patienten, die daheim gesund wurden statt im Spital Zollikerberg. Sie sitzt mit Nasenbrille an ihrem Stubentisch in Zumikon ob Zürich. Am Arm eine Antibiotika-Infusion, ein Haken am Arven-Buffet dient als Infusionsständer. Wieso hat sie sich für die Behandlung daheim entschieden?

Beobachter
Artikel aus dem «Beobachter»

Dieser Artikel wurde erstmals im «Beobachter» publiziert. Weitere spannende Artikel findest du unter www.beobachter.ch.

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«Keine schnarchende Zimmernachbarin und im eigenen Bett schlafen», antwortet sie prompt. «Daheim ist es einfach am schönsten.» Hier könne sie in ihrem eigenen Tempo rumwuseln. Essen, wann sie wolle – und ungestört ihre Krimis lesen.

Schädlicher Feinstaub

Die pensionierte Fusspflegerin bekam vor drei Jahren die Diagnose COPD, eine chronische und unheilbare Lungenkrankheit. Am meisten geschadet hat ihr der Staub bei der Arbeit, die feinen Partikel der Schleifmittel. «Ich habe 48 Jahre im Beruf gearbeitet. Von morgens um acht bis abends um acht», sagt sie und fährt sich mit der Hand durch die kurzen weissen Haare. Früher wusste man nicht, wie schädlich der eingeatmete Feinstaub sein kann.

Weil sie plötzlich kaum mehr Luft bekam, brachte ihr Mann sie Ende Oktober auf den Notfall des Spitals Zollikerberg. Rindlisbacher litt an einer akuten Verschlimmerung ihrer COPD-Erkrankung. 

Sie kennt das Spital-zu-Hause-Modell vom Nachbarn

Nach einer gründlichen Untersuchung wurde sie ins Modell aufgenommen. Sie brauchte eine antibiotische Therapie über die Vene, Inhalations- sowie Sauerstofftherapie. «Als man mir sagte, ich sei geeignet für die Spitalbehandlung zu Hause, sagte ich sofort zu», erzählt sie. Ein Nachbar hatte das auch schon gemacht – sie kannte das Modell.

Im Wohnzimmer: Patientin Sonja Rindlisbacher im Gespräch mit Pfleger Pablo Mesa und Ärztin Elisa Heising (rechts)
Foto: Sophie Stieger

Bereut hat sie es nicht, im Gegenteil. Entspannt sitzt sie auf der roten Couchgarnitur und lässt sich vom Pfleger den Blutdruck messen. Die Ärztin macht einen Ultraschall und schaut, ob sich Wasser oder eine Entzündung auf der Lunge zeigt. Zum Glück nicht.

«Als ich kürzlich etwas ins Schwitzen kam, klingelte sofort das Telefon», erzählt Rindlisbacher. Im Spital zeigte der Monitor eine erhöhte Herzfrequenz. Sie ist durch Telemonitoring direkt mit dem Spital verbunden. Körpertemperatur, Blutdruck, Puls und Atemfrequenz werden übertragen. «Aber ich hatte doch nur Wäsche aufgehängt», sagt sie lachend. Und sich dabei übernommen.

Nach fünf Tagen «spitaladäquater Pflege» – so heisst das im Fachjargon – konnte Rindlisbacher «entlassen» werden. Während dieser Zeit wurde sie mehrmals täglich vom Visit-Team be- und untersucht. Jetzt ist wieder ihr Hausarzt zuständig. 

Der Angehörige

Ernst Hardmeier, 78, ist seit 18 Jahren mit Sonja Rindlisbacher verheiratet. «Meine zweite Frau», erklärt der pensionierte Servicemechaniker. Hatte er keine Bedenken, dass seine Gattin zu Hause behandelt wird?

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Artikel aus dem «Beobachter»

Dieser Artikel wurde erstmals im «Beobachter» publiziert. Weitere spannende Artikel findest du unter www.beobachter.ch.

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«Nein», sagt er. Die Vorteile hätten klar überwogen. «Ich muss nicht jeden Tag den Weg ins Spital machen und kann am Abend ins Männerturnen.» Er habe ja gewusst, dass sie gut betreut und überwacht ist. «Für mich war das eine grosse Erleichterung.»

Er hofft, dass er mit seiner Frau bald wieder in ihr Maiensäss im Prättigau kann. «Die letzten Wochen war das nicht möglich, weil sie so schwer Luft kriegte.» Das Ferienhäuschen liegt auf über 2000 Metern.

Die Ärztin

Ärztin Elisa Heising auf dem Weg zur Patientin: «Das Projekt entspricht mir voll und ganz: Das ist die Medizin, die ich immer machen wollte.»
Foto: Sophie Stieger

Elisa Heising, 37, ist Oberärztin Innere Medizin und seit Beginn ärztliche Leiterin des Visit-Spital-Projekts. «Es ist mein drittes Baby», sagt sie stolz. Sie ist Mutter zweier kleiner Töchter. «Das Projekt entspricht mir voll und ganz: Das ist die Medizin, die ich immer machen wollte.»

Damit meint sie: nah an den Patienten sein, eingehen können auf die individuellen Bedürfnisse vor Ort. Ihnen auf Augenhöhe begegnen. Und sie als ganzheitlichen Menschen wahrnehmen, was im Spitalkontext oft untergeht. 

«Bei Frau Rindlisbacher bin ich auf der Visite zu Gast bei ihr zu Hause. Dadurch verlaufen Kommunikation und Behandlung ganz anders, besser.» Sie könne ihr genau erklären, was sie machen solle, und schauen, wie sie es umsetze. «Gerade für ältere Menschen bietet die Behandlung zu Hause viele Vorteile.»

Als Ärztin habe sie eine viel weniger autoritäre Rolle als im Spital. Die Hierarchien würden aufgebrochen, was die Autonomie der Patienten stärke. «Es entsteht eine neue Beziehungsebene.» Das sei eine nachhaltig bessere Medizin. «Es geht nicht nur um das Medikamente-Management, sondern auch darum, Gewohnheiten zu verändern, wie Ernährung oder Bewegung.» Da sehe sie bei Visit genauer, was nötig sei. 

Mehr Sicherheit daheim

Die Patientinnen und Patienten bewegen sich daheim mehr, Verwirrtheit und Schlafprobleme treten seltener auf. Die vertraute Umgebung vermittelt ihnen per se ein Gefühl der Sicherheit. Und das Risiko einer Spitalinfektion wird reduziert. Insgesamt werden sie schneller gesund.

Die wissenschaftliche Auswertung des Projekts belegt ausserdem: Daheim beträgt die Behandlung im Schnitt 4,89 Tage, in der Vergleichsgruppe im Spital 5,53 Tage. Zudem: Nur knapp 3 Prozent müssen danach erneut ins Spital, gegenüber 8,5 Prozent der Vergleichsgruppe. Also fast dreimal weniger. 

Der Pflegefachmann

Pfleger Pablo Mesa bereitet die Antibiotika-Infusion vor.
Foto: Sophie Stieger

Pfleger Pablo Mesa, 35, ist seit einem Jahr beim Visit-Team. Nach der Konsultation im Notfall hat er Patientin Rindlisbacher nach Hause gefahren. «So konnte ich mir gleich ein Bild machen und die nötigen Checks durchführen.»

Ihr sei es nicht gut gegangen. Umso schöner, dass das beim Besuch wenige Tage später anders ist, findet er. Rindlisbacher fühlt sich sichtlich wohl, als ihr Mesa die Infusion anlegt. «Ich bin froh, dass es Ihnen besser geht», sagt er. 

Pflegefachmann Pablo Mesa mit mobilem Sauerstoffgerät in der Hand im Gespräch mit Ärztin Elisa Heising. Sie sind auf dem Rückweg von der Patientin ins Spital.
Foto: Sophie Stieger

Mesa schätzt insbesondere die enge Zusammenarbeit mit Ärztin Elisa Heising. «Wir arbeiten hier mehr gleichberechtigt und berufsübergreifend zusammen als im Spital.» Das sei schön und für ihn eine wertvolle Bereicherung seines Jobs.

Auf der Hin- und der Rückfahrt würden sie sich jeweils austauschen und die wichtigsten Daten ins System eintragen. «Das ist effizient und macht Spass», sagt er. «Ich bin gern bei den Patienten daheim», so Mesa. Bei Bedarf hilft er aber nach wie vor auch auf den Stationen im Spital aus. 

Der Klinikleiter

«Hospital at Home wird das Schweizer Gesundheitswesen nachhaltig verändern», sagt Klinikleiter Christian Ernst.
Foto: Sophie Stieger

Christian Ernst ist Leiter Klinik Innere Medizin des Spitals Zollikerberg, Co-Projektleiter von Visit und Experte für Notfallpflege. Er sagt: «Ganz ehrlich, als Manager war ich zuerst skeptisch gegenüber Hospital at Home. Ich dachte, wir würden uns damit selbst kannibalisieren.» Damit meint er, dass sich das Spital selber die Patienten wegnimmt.

Mittlerweile habe sich seine Sicht aber diametral geändert. Er ist überzeugt: «Dieses neue Modell wird das Schweizer Gesundheitswesen nachhaltig verändern.» 

Der Mensch steht im Zentrum

Laut Ernst ist die Behandlungsdauer kürzer, zudem können die Spitalbetten anderweitig belegt und die Pflegefachpersonen und Ärztinnen flexibel eingesetzt werden. Und die Patienten profitieren, da sie zu Hause mobiler sind.

Sind es nicht vor allem die Kosten, die damit gesenkt werden? Werden Patientinnen zu Hause betreut, benötigen sie kein teures Spitalbett und keine Verpflegung. Klinikleiter Ernst winkt ab: «Der Hauptgrund für unseren Pilotversuch war der Mensch. Er steht in diesem Modell viel stärker im Zentrum als im klassischen Spitalbetrieb.» Einsparungen seien nicht das oberste Ziel gewesen. 

Erfahrungen aus anderen Ländern zeigen aber, dass Behandlungen zu Hause bis zu 40 Prozent günstiger sind. Zu diesem Schluss kam 2022 eine Studie aus Grossbritannien.

Krankenkassen und Politik

Das Modell kommt auch bei den Krankenkassen gut an, sie stimmten einem stationären Tarif für Hospital at Home zu. Für das Spital ein Meilenstein. Denn damit wurden die Weichen gestellt, das Pilotprojekt in den Regelbetrieb zu überführen.

Auch die Zürcher Gesundheitsdirektion fördert das Projekt. «Mit der finanziellen Unterstützung möchten wir Erkenntnisse zu Qualität und Wirtschaftlichkeit des Hospital-at-Home-Ansatzes gewinnen», sagt Jörg Gruber, Chef des Zürcher Gesundheitsamts. 

Nächstes Jahr werden weitere Projekte starten, die Klink Arlesheim, die Klinik Hirslanden und andere verfolgen bereits Ähnliches. 

Die Spitex

Marianne Pfister, Co-Geschäftsführerin Spitex Schweiz, sieht das Ganze kritischer. Sie warnt: Mehr als 60’000 Spitex-Mitarbeitende seien heute schweizweit bei den Menschen zu Hause im Einsatz.

Diese riesige Pflegeexpertise und Ressource müsse man auch nutzen, wenn der Spitalarzt oder die Spitalärztin nach Hause kommt. «Die Spitäler dürfen keinesfalls teure Parallelstrukturen zu Hause aufbauen.» Dafür seien weder Geld noch Fachkräfte vorhanden. 

Die Zukunft heisst Care at Home

Grundsätzlich sieht die Spitex ein grosses Potenzial für die Zukunft: eine umfassende und integrierte Versorgung der Menschen zu Hause. Stichwort: Care at Home.

Hierfür müssen jedoch alle Leistungserbringer – Spitex, Haus- und Spitalärztinnen, Therapeuten, Apothekerinnen, Sozialarbeiter – Hand in Hand arbeiten, so Pfister. Das sei leider noch nicht immer der Fall.


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