Darum gehts
- Junger Mann im Massnahmenzentrum Uitikon für schwere Delikte eingesperrt
- Dario lernt mit Konflikten umzugehen und plant eine Ausbildung
- Ein Platz in der geschlossenen Abteilung kostet rund 850 Franken pro Tag
Mit zittrigen Fingern zieht Dario* (23) eine Zigarette aus der zerfledderten Schachtel und steckt sie zwischen die Lippen. Er sitzt im überdachten Ausgang zum Innenhof. Beton. Stacheldraht. Regen. «Die Monotonie ist anstrengend», sagt er und zündet die Zigarette an. «Jeder Tag ist gleich. Und hier gibts nichts, was so wirklich geil ist.»
Das Massnahmenzentrum Uitikon (MZU) ist eine Vollzugseinrichtung des Kantons Zürich für Jugendliche und junge Männer, die schwere Delikte begangen haben. Sexualdelikte, Gewalt, Tötungen.
Dario ist einer von ihnen. Er lebt auf der geschlossenen Abteilung. Vor dem Fenster ein meterhoher Zaun mit Stacheldraht. Dahinter Herbstwald. Dario zeigt auf eine Karte des Zentrums. «Hier sind wir», sagt er und fährt mit dem Finger über das Gebäude seiner Abteilung. «Und hier darf ich hin» – der Innenhof. «Der Rest ist momentan tabu.» Dort befinden sich etwa Werkstätten und Betriebe.
Seit April ist er hier eingesperrt. «Im Nachhinein bin ich froh, dass sie mich verhaftet haben», sagt Dario. «Ich brauchte diesen Einschnitt.»
Schon als Jugendlicher war er gewalttätig und nahm Drogen. «Koks, Cannabis, Medikamente, MDMA – die ganze Palette», sagt er. Sie hätten seine Hemmschwelle gesenkt. «Aber ich kann mein Verhalten nicht darauf schieben», sagt Dario. «In mir ist etwas, das Gewalt begünstigt. Eine gestörte Persönlichkeitsentwicklung oder so.»
«Sie werden hart drangenommen»
Für die Insassen gilt striktes Drogen- und Alkoholverbot. Die Zimmer werden regelmässig durchsucht. Auch heute. Ein Betreuer bringt eine 1,5-Liter-PET-Flasche ins Büro. Eine braune, zähe Flüssigkeit, darin Fruchtstücke. «Da wollte jemand Alkohol gären lassen», sagt er.
Dario ist seit Monaten clean. «Ausser Zigis», sagt er und zündet sich eine neue an. Es gibt ständige Urinkontrollen – unter Aufsicht. «Neu müssen wir die Hosen bis unter die Knie runtermachen, weil irgendwer beschissen hat.» Er schüttelt den Kopf. «Richtig demütigend.»
«Sie werden hart drangenommen bei uns», sagt Carmelo Campanello, der Direktor. «Wir konfrontieren sie regelmässig mit dem, was sie getan haben.»
Ein Platz in der geschlossenen Abteilung des MZU kostet rund 850 Franken pro Tag. Im Gefängnis sind es rund 330 Franken. «Aber langfristig kommt das günstiger», sagt Campanello. «Wenn junge Menschen sich wirklich verändern und nicht wieder straffällig werden.»
Verurteilte Straftäter unter 18 kommen in der Schweiz nicht ins Gefängnis. Bei schweren Delikten erhalten sie eine stationäre Schutzmassnahme. Geschlossene Türen. Überwachung. Therapie.
Dario war 22, als er verhaftet wurde. Er kam zuerst ins Gefängnis. «Da war vieles einfacher», sagt er. «Ich hatte einen Fernseher in der Zelle.»
«Ständig gibt es Konflikte»
Nach einem halben Jahr bekam er die Möglichkeit, ins MZU zu wechseln. Massnahme statt Strafe. Das steht in der Schweiz Straftätern unter 25 zu, die in ihrer Persönlichkeitsentwicklung gestört sind.
Bis zu 58 junge Männer leben hier – die Hälfte auf der geschlossenen Abteilung. «Klienten» nennt man sie im MZU. Maximal neun teilen sich eine Wohngruppe: Küche, Wohnzimmer, Bücherregal, Töggelikasten. Sie essen zusammen, begleitet von Sozialpädagogen. Alleine sind sie selten. «Ständig gibt es Konflikte», sagt Campanello. «Damit arbeiten wir.»
Dario sagt, er habe gelernt, die Faust im Sack zu machen. «Klar rege ich mich auf. Wenn ich Abwasch machen muss und die andern extra lange am Tisch hängen.» Er zuckt mit den Schultern. «Dann gehe ich raus und rauche eine Zigi. Danach ist gut.»
Morgens und nachmittags arbeitet er. Abends liest er, löst Sudokus. Handyverbot. Fernsehen nur Tagesschau unter der Woche, am Wochenende vielleicht ein Film – aber ohne Gewaltszenen. «Ohne Ablenkung müssen sie sich mit sich selbst auseinandersetzen», sagt Campanello.
Dario weiss inzwischen, wo seine Schwächen liegen. «Ich habe einen geringen Selbstwert und bin schnell gekränkt», sagt er. «Dann werde ich gewalttätig.»
Sein Hauptdelikt: häusliche Gewalt. Dario senkt den Kopf. «Ich schäme mich, Ihnen als Frau das zu erzählen», sagt er leise. «Einer Frau wehzutun, das ist wirklich nieder.»
«Da schlug ich zu»
Passiert ist es letztes Jahr. Seine damalige Freundin erzählt, sie habe ihn betrogen. Er rastet aus. «Ich habe sie die ganze Zeit penetrant gefragt: ‹Hat es dir gefallen?›.»
Sie antwortet mit Nein. Doch er lässt nicht locker. Also sagt sie Ja. «Da brannten bei mir alle Sicherungen durch und ich schlug zu», sagt Dario. Sie wehrt sich und greift ihn mit dem Messer an. «Ich habe sie gewürgt, bis sie still war.» Plötzlich realisiert er, was er tut, lässt von ihr ab. Sie ist noch bei Bewusstsein, nicht schwerwiegend verletzt.
Er geht. Die Polizei kommt. Er kommt einen Tag in Untersuchungshaft. Verliert seine Lehrstelle, nimmt mehr Drogen, stiehlt Autos. Das Verfahren läuft weiter. Als er einen Termin beim psychiatrischen Gutachter verpasst, wird er festgenommen.
Die Gerichtsverhandlung steht noch an. Maximal 18 Monate dürften ihm drohen. «Wäre ich im Gefängnis geblieben, wäre ich bald frei», sagt er. «Aber dann? Keine Wohnung, keine Arbeit. Ich würde wieder den gleichen Scheiss machen.»
Im MZU muss er eine Lehre machen. Hotellerie und Hauswirtschaft. Wenn er davon spricht, wirkt er wacher. «Nach der Prüfung will ich an die Fachschule», sagt er. «Dann Bachelor in Facility-Management.»
«Ein Drittel kommt wieder ins Gefängnis»
Campanello sagt: «Ein Drittel unserer Klienten wird nie wieder straffällig. Ein Drittel begeht kleine Delikte. Ein Drittel kommt wieder ins Gefängnis.»
Dario drückt die Zigarette aus, vergräbt die Hände in seinen Taschen. Er erzählt von seiner Mutter, die ihn regelmässig besucht. «Sie sagte mir, manche Menschen müssten auf die Schnauze fallen, um laufen zu lernen.»
Der Hof glänzt vom Regen. Dario steht auf. «So wie ich gelebt habe, habe ich niemanden glücklich gemacht.» Er tritt durch die Tür, rein in die Wärme. «Hier will ich etwas aufbauen, auf das ich stolz sein kann.»
* Name geändert