Es dämmert. Es schüttet. Keinen Hund würde man nach draussen jagen. Doch da, bei der einsamen Bahnstation Grafenort OW, steigen drei Kinder aus dem Zug. Allein. Ohne Hilfe.
Es ist die tapfere Jessica (11). Sie schiebt einen Kinderwagen, in dem ein 6-monatiges Baby liegt, ein Bübchen. An der Hand führt sie ein 4-jähriges Mädchen.
Ihre Mutter Esther S.* (43) hat Jessica allein losgeschickt. Wieder einmal. Zwar verbringt die Frau offenbar den Freitagnachmittag mit den dreien: Die 4-Jährige und das Baby sind die Kinder einer neuen Freundin aus Langenthal BE, die Esther S. vor wenigen Monaten kennengelernt hat. Im Internet.
Esther S. wurde das Sorgerecht für ihre Kinder entzogen
Um 19.11 Uhr lädt sie Jessica und ihre zwei Schützlinge in Luzern in den Zug. «Sie hatte offenbar noch etwas zu erledigen», sagt Jürg Wobmann, Sprecher der Nidwaldner Kantonspolizei.
Vielleicht hat Esther S. schlicht keine Lust, nach Hause zu gehen. Oder sie ist wieder einmal verwirrt. Der Frau wurde vor gut einem Jahr das Sorgerecht für ihre Kinder Jessica und Raphael (13) entzogen. Nur an jedem zweiten Wochenende kann Jessica ihre Mutter besuchen. Raphael, der bei Pflegeeltern lebt, will nicht einmal mehr das.
Um 19.49 Uhr hält der Zug in Grafenort. Zum Wohnhaus von Esther S. muss Jessica zurückgehen, zwei Kilometer der Engelberger Aa entlang. Sie nimmt den Fussweg am Ufer. Durch Wald, Dickicht, hohes Gras. Ein paar Meter, und sie kommt zum kleinen Gerlibach. Vor sich eine Betonfurt, über der jetzt das Wasser rauscht. Wie viel, wie stark – schwer zu sehen in der Dämmerung.
Der kleine Gerlibach ist wild geworden
Umkehren? Die Kantonsstrasse ohne Trottoir nehmen, mitten im Gewitter? Jessica sagt wohl der Kleinen: Bleib hier, ich schieb den Kinderwagen rüber, dann hol ich dich. Sie schiebt – doch der unerwartet wilde Gerlibach wird den Wagen mitgerissen haben. Jessica hat bestimmt versucht, ihn zu halten. Vielleicht stürzt sie – wird in den reissenden Wassern fortgetragen in die Engelberger Aa.
Die 4-Jährige ist plötzlich allein. Verstört wird sie minutenlang dagestanden sein. Dann dreht sie sich um, geht den Weg zurück. Zum ersten Haus, wo sie Licht sieht. Klopft. Völlig durchnässt. Dem Bauernpaar sagt das Mädchen nur: «Die anderen sind baden gegangen.»
Die anderen: Jessica und ihr kleinster Schützling, ein Baby. Jessica, das Mädchen, das schon so früh erwachsen sein musste.
Jessica musste tapfer sein
«Sie passte immer auf alle auf», erinnern sich Anni und Toni Zumbühl, die Schulbus-Chauffeure. «Ob alle sicher sitzen, angeschnallt sind.» Typisch Jessica, sagt ihre Schulfreundin: «Ihre Mami war eben oft im Ausgang.»
Doch die Schule Altzellen musste Jessica verlassen und ins Heim umziehen. «Schad. Sie war nett und hatte gern Pferde», sagt ihre Freundin. «Jessica war ein ganz normales, aufgewecktes Kind», bestätigt Raphaels Pflegemutter erschüttert.
Aber normal Kind durfte Jessica nicht sein. Sie musste tapfer sein. «Und andere Kinder heim bringen», sagt Chauffeur Zumbühl traurig. «Über den Gerlibach – genau in den paar Stunden im Jahr, in denen er so gefährlich ist.»
*Namen bekannt
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