Gerlibach-Drama
Das Grauen, das zwei Kinderleben kostete

GRAFENORT OW – Knapp drei Monate ists her: Jessica (11) und der kleine Nils (6 Monate) werden vom Gerlibach mitgerissen. Damit begann die fieberhafte Suche nach den beiden Kindern.
Publiziert: 07.10.2009 um 11:31 Uhr
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Aktualisiert: 01.10.2018 um 00:17 Uhr
Hier geschah das Unglück.
Foto: Blick/Philippe Rossier

Es ist Freitag, 17. Juli. Es regnet den ganzen Tag in Strömen. Keinen Hund würde man nach draussen schicken. Doch um 19.49 Uhr steigen drei Kinder aus dem Zug in Grafenort. Es ist die tapfere Jessica (11) und die beiden Geschwister Rahel (4) und Nils (6 Monate) im Kinderwagen.

Die Reise

Eine Elfjährige alleine mit zwei Kindern, eins davon ein Baby? Es ist die Konsequenz der fatalen Entscheidung von Esther S. (46), der Mutter von Jessica. Sie vertraut ihrer Tochter die beiden Ferienkinder an. Esther S. sollte eigentlich auf Rahel und Nils aufpassen – doch sie fährt zu einer Internet-Bekanntschaft, schickt die Kinder alleine nach Hause.

Einen Regenschirm haben die Kinder nicht. Nur über dem Kinderwagen ist ein Plastikschutz, damit der kleine Nils nicht nass wird. Die Kinder müssen in Luzern auf den Zug, sie sollen alleine nach Wolfenschiessen fahren.

Der Fluss

Dort kommen sie an diesem Freitag auch an. Jessica nimmt den Weg, den sie mit ihrer Mutter immer nimmt. Sie schiebt den Kinderwagen über den steinigen Weg zwischen Fluss und Waldrand. Noch immer schüttet es aus Kübeln. Die Dämmerung bricht langsam herein.

Nach einem Kilometer kommen die Kinder an die Stelle, wo der Gerlibach in die Engelberger Aa mündet. Ein Schild mit einem Totenkopf und einem Kind, das vor einer Welle flüchtet, warnt davor, sich im Flussbett aufzuhalten. Das Wasser könne jederzeit gefährlich anschwellen, steht darauf – «auch bei schönem Wetter».

Jetzt ist die Gerlibach-Furt überflutet. Doch Jessica will trotzdem den Fluss überqueren. Die vierjährige Rahel hat Angst, ohne Flügeli, sagt sie zu Jessica, gehe sie nie baden. Und ohne die Schwimmflügel überquere sie auch diesen Bach nicht. Jessica sagt ihr, sie solle warten, sie bringe den Kinderwagen auf die andere Seite, dann komme sie sie holen. Doch Jessica und Nils kommen nie mehr zurück.

Das Unglück

Kaum im Wasser, reisst die Strömung die 11-Jährige und den Buggy samt Baby Nils mit. Rahel wartet. Und wartet. Kurz vor 22 Uhr klingelt die völlig durchnässte Rahel bei einem Bauernhaus. Dem Bauernpaar sagt sie nur, dass die anderen baden gegangen seien.

Gegen Mitternacht kehrt Esther von ihrem Freund zurück in ihr Haus in Wolfenschiessen. Doch die Kinder sind nirgendwo. Erst zwei Stunden zuvor, als die Eltern von Nils und Rahel anriefen, log sie diese an. Sagte, die drei Kinder seien bereits am Schlafen.

Die Suche

Um 00.40 Uhr alarmiert Esther die Polizei. Am nächsten Morgen um 8.30 Uhr werden auch die Eltern von Nils und Rahel informiert. Doch der Fluss hat die beiden mitgerissen. 3000 Stunden suchen Polizisten und die Eltern Michaela S. und Alfred C. nach den Kindern. Vergeblich.

Doch warum waren die Kinder bei Esther S., einer psychisch angeschlagenen Frau? Michaela S. und Alfred C. lernen die Frau übers Internet kennen, laden sie ein, freunden sich an. Ein Fehler.

Das Verfahren

Das Strafverfahren gegen Esther S. läuft noch: Ein psychiatrisches Gutachten soll zeigen, ob die psychisch angeschlagene Esther S. schuldfähig war, als sie die drei Kinder in Obhut hatte. Das wird erst Ende Jahr soweit sein.

Der Frau wurde das Sorgerecht für ihre Kinder Jessica und Raphael (13) entzogen. Nur an jedem zweiten Wochenende konnte Jessica ihre Mutter besuchen. Raphael, der bei Pflegeeltern lebt, will nicht einmal mehr das.

Die Eltern von Nils und Rahel trauern um ihr Baby. Auf eine Entschuldigung von Esther S. warten sie immer noch. «Wir würden uns so wünschen, dass sie sich endlich meldet», sagt Michaela S. im Juli zu BLICK.

Der Fund

Heute das nächste Kapitel im Gerlibach-Drama. Arbeiter finden bei Baggerarbeiten im Vierwaldstättersee eine Kinderleiche. Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass es die 11-jährige Jessica ist. (num)

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