Die Bergler im Kanton Uri lernen es von klein auf: Naturgewalten lassen sich nicht kontrollieren. Man kann nur versuchen, sie richtig einzuschätzen. Das geschieht aktuell laufend. Dank regelmässiger Aufklärungsflüge machen sich Spezialisten ein Bild vom Lawinenrisiko. Auf ihren Schultern lastet eine immense Verantwortung. Sie entscheiden, welche Verkehrswege zur Sicherheit gesperrt werden.
BLICK ist dabei, als gestern der Helikopter am Gotthardmassiv in die Luft steigt. Pilot Simon Baumgartner (32) hat den Steuerknüppel fest in der Hand. Der Rotor dröhnt, der Wind bläst, und Schnee peitscht durch die Luft. Rasant fliegt die Maschine von Swiss Helicopter über Andermatt Richtung Schöllenenschlucht.
In der Luft wird das Risiko greifbar
An den steilen Felshängen liegt tonnenweise Schnee. Aus der Vogelperspektive wird klar, weshalb die Hauptstrasse, die sich tief unten durchs Gestein schlängelt, noch bis Dienstag gesperrt war. Man darf sich nicht vorstellen, was passiert, wenn eine Lawine auf die stark frequentierte Route donnern würde.
Die Lage hat sich seit dem Wochenende etwas entspannt, ist aber nach wie vor ernst. Rund um Andermatt gilt Gefahrenstufe 3 («erheblich»). Das heisst: Vereinzelt sind spontane Abgänge möglich. Lawinen-Experte und Bergführer Toni Niffeler (53) unterstützt den Kanton Uri bei der Beurteilung der Lage. Er erklärt auf Anfrage: «In den letzten Tagen hatte es starke Winde. Zusammen mit den Schneefällen gab es so in höheren Regionen grosse Ablagerungen.»
Mit Hilfe der Heli-Flüge sehen die Spezialisten diese Schneelager. Zudem orientieren sie sich anhand sogenannter Zeigerlawinen. «Wir schauen, ob es an einem bestimmten Ort Abgänge gegeben hat», sagt Niffeler. Denn: «Daraus schliessen wir, an welchen Hängen ein weiteres Risiko besteht.»
Dabei stützen sich die Experten auf jahrelange Erfahrung. Sie kennen die Berge und führen ein Register, in dem die Lawinen eingezeichnet sind. Niffeler dazu: «Voraussagen sind nie leicht. Man muss Indizien gegeneinander aufwiegen.» Die Berechnung der Schneemenge sei schwierig. Momentan komme es wegen der warmen Temperaturen eher zu Nass- als zu Staublawinen.
Lawinenbahnen bis ins Tal
Bei ihren Touren verlassen sie sich auf das fliegerische Können von Pilot Baumgartner und Begleiter Richard Herger (29). Das Zweierteam ist gerade auf einem von zahlreichen Aufklärungsflügen. Als der Helikopter die Schöllenenschlucht verlässt und ins Meiental steuert, kommen an der südwestlichen Bergflanke Spuren grosser Lawinen zum Vorschein. Die Bahnen ziehen sich wenige Meter an Alphütten vorbei.
Überall am Berg hat es Schutzbauten. «Die sind gerade gut aufgefüllt», sagt Herger. Das erkenne man jeweils erst hier oben. Tatsächlich, als Baumgartner umschwenkt und die Basis in Erstfeld anfliegt, weichen die weissen Flächen grünen Wiesen. Im Urner Talboden sieht es mehr nach Frühling aus.
Bis nach der Landung ist Pilot Baumgartner hoch konzentriert. «Im Winter gibt es manchmal diffuses Licht und schlechte Sichtverhältnisse», sagt er. Darauf müsse man besonders achten. Angst hat er trotzdem keine: «Das wäre falsch. Aber Respekt braucht es, vor dem Fliegen und vor der Natur!»