Wo Notwehr aufhört und Selbstjustiz beginnt
Müssen wir uns alles gefallen lassen?

Wo hört die Notwehr auf? Wo fängt die Selbstjustiz an? Ein rechtlich schmaler Grat. Fachanwalt André Kuhn (45) erklärt, wie man sich rechtlich richtig wehrt.
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André Kuhn (45) ist Fachanwalt für Strafrecht in Aarau und Zürich.
Foto: zVg
Myrte Müller

Es ist Nacht. Ein Geräusch schreckt aus dem Schlaf. Es ist jemand Fremdes im Haus. Die Bedrohung ist offensichtlich. Was nun? Darf ich mich wehren? Rechtsanwalt André Kuhn (45) erklärt, wo Notwehr aufhört und Selbstjustiz beginnt: «Wer nachts in ein Haus einbricht, begeht ganz klar einen Angriff auf ein sogenanntes Rechtsgut. Jeder hat das Recht, sich zu wehren.» Die Frage ist wie? Denn die Abwehr müsse verhältnismässig sein. Sonst kann schnell auch das Opfer vor dem Richter landen. 

Auch im Fall von Brigitte Peyer (61) war die Bedrohungslage klar: Am 19. Dezember 2018 entreisst ihr der abgelehnte Asylbewerber Moestafa K. (28) die Handtasche mit 3500 Franken darin. Ihr Lebenspartner Rudolf Naef (69) überwältigt den Marokkaner, nimmt ihn in den Schwitzkasten. Dabei erleidet Moestafa K. einen Rippenbruch und Schürfwunden. Die Staatsanwaltschaft Schaffhausen sprach dem Dieb ein Recht auf Entschädigung zu, da Rudolf Naef die körperliche Konfrontation mit dem Beschuldigten gesucht habe. 

Ob Einbruch oder Taschendiebstahl. Der Rat des Zürcher Strafrechtsexperten in einer solchen Situation: «Ziehen Sie sich zurück und rufen Sie die Polizei.» Doch man darf auch mutiger sein. «Ein Einbrecher kann durchaus in ein Zimmer eingesperrt werden, bis die Polizei eintrifft. Das wäre zwar Nötigung, bliebe aber in dieser Notwehrsituation straffrei», sagt André Kuhn. Kommt es zu einem tätlichen Angriff, dürfe sich der Angegriffene selbstverständlich wehren – immer mit den Umständen entsprechend angemessenen Mitteln. 

«Einbrecher zusammenschlagen, wäre Notwehr-Exzess»

«Wird der Täter beispielsweise von mehreren Personen gestellt und brutal niedergeschlagen, dann spricht man von Notwehr-Exzess», erklärt der Anwalt, «das gilt ebenso für denjenigen, der eine scharfe Pistole aus dem Nachttisch zieht und auf den Eindringling schiesst, ohne dass er unmittelbar angegriffen wurde und sein Leben gefährdet war.» Der Notwehr-Exzess ist strafbar, «auch wenn dann meist mildernde Umstände gelten».

Eher aufs Bein als auf den Kopf zielen

Anders sei es, wenn eine direkte Lebensbedrohung vorliege. «Steht jemand mit gezückter Waffe vor Ihnen, haben Sie das Recht, auf ihn zu schiessen», sagt André Kuhn. Und sogar da gelte die Verhältnismässigkeit. «Man müsste eher auf das Bein als auf den Kopf zielen», so Kuhn, «und es müsste sich nachweislich um einen absoluten Notfall handeln.» 

Der Einsatz von Schreckschusspistolen wie im Fall des Hanfbauern aus Kölliken AG hält der Jurist hingegen für grundsätzlich legitim: «Solange niemand verletzt wird, gilt der Gebrauch einer Schreckschusspistole als Notwehrmassnahme.»

Hanfbauer wehrt sich mit Schreckschusspistole gegen Diebe
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Polizei-Einsatz in Kölliken AG:Hanfbauer wehrt sich mit Schreckschusspistole gegen Diebe
In Italien und den USA darf man schiessen

Es muss keine Bedrohung sein. Ein mulmiges Gefühl reicht – und es darf geschossen werden. In den USA kommt es immer wieder zur Selbstjustiz. Bürger schiessen auf Bürger, weil sie glauben, dass diese Böses im Sinn haben. Und das Gesetz gibt ihnen recht. Das «Stand-Your-Ground-Law» (auf Deutsch «Weiche-nicht-von-der-Stelle-Gesetz») erlaubt US-Amerikanern zu schiessen, sobald sie sich bedroht fühlen, ohne – wie früher verlangt – vor dem vermeintlichen Angreifer zurückweichen zu müssen. Das umstrittene Notwehrrecht gilt bereits in über 30 amerikanischen Bundesstaaten und machte 2012 durch den Todesfall von Trayvon Martin (†17) traurige Schlagzeilen. 

Am 26. Februar schlenderte der afroamerikanische Highschool-Schüler vom Supermarkt nach Hause. Er hatte Kaugummis und einen Fruchtsaft gekauft. Ein Mitglied einer Bürgerwehr (damals 28) erschoss den Teenager auf offener Strasse, weil er ihm suspekt vorkam. Der Schütze wurde vor Gericht freigesprochen. Er habe aus Notwehr gehandelt.

Neues Notwehr-Gesetz von Matteo Salvini

In Italien will man mit mehr Selbstjustiz gegen Kriminalität vorgehen. Ex-Innenminister Matteo Salvini (46) hatte im März 2019, noch in seiner Amtszeit, ein neues Notwehrgesetz auf den Weg gebracht. Demnach müssen Personen, die aus Notwehr Einbrecher verletzen, kein Schmerzensgeld mehr zahlen. Wer im «Zustand schwerwiegender Beunruhigung» die Grenzen der Notwehr überschreitet und überzogen auf einen Angriff reagiert, bleibt straffrei. Dafür werden die Strafen für Einbruch, Hausfriedensbruch und Raub verschärft. - Müller Myrte

Es muss keine Bedrohung sein. Ein mulmiges Gefühl reicht – und es darf geschossen werden. In den USA kommt es immer wieder zur Selbstjustiz. Bürger schiessen auf Bürger, weil sie glauben, dass diese Böses im Sinn haben. Und das Gesetz gibt ihnen recht. Das «Stand-Your-Ground-Law» (auf Deutsch «Weiche-nicht-von-der-Stelle-Gesetz») erlaubt US-Amerikanern zu schiessen, sobald sie sich bedroht fühlen, ohne – wie früher verlangt – vor dem vermeintlichen Angreifer zurückweichen zu müssen. Das umstrittene Notwehrrecht gilt bereits in über 30 amerikanischen Bundesstaaten und machte 2012 durch den Todesfall von Trayvon Martin (†17) traurige Schlagzeilen. 

Am 26. Februar schlenderte der afroamerikanische Highschool-Schüler vom Supermarkt nach Hause. Er hatte Kaugummis und einen Fruchtsaft gekauft. Ein Mitglied einer Bürgerwehr (damals 28) erschoss den Teenager auf offener Strasse, weil er ihm suspekt vorkam. Der Schütze wurde vor Gericht freigesprochen. Er habe aus Notwehr gehandelt.

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In Italien will man mit mehr Selbstjustiz gegen Kriminalität vorgehen. Ex-Innenminister Matteo Salvini (46) hatte im März 2019, noch in seiner Amtszeit, ein neues Notwehrgesetz auf den Weg gebracht. Demnach müssen Personen, die aus Notwehr Einbrecher verletzen, kein Schmerzensgeld mehr zahlen. Wer im «Zustand schwerwiegender Beunruhigung» die Grenzen der Notwehr überschreitet und überzogen auf einen Angriff reagiert, bleibt straffrei. Dafür werden die Strafen für Einbruch, Hausfriedensbruch und Raub verschärft. - Müller Myrte

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