Der Entscheid kam plötzlich: In der Schweiz wurden letzte Woche praktisch alle Corona-Massnahmen aufgehoben. Die Zertifikatspflicht entfällt, Masken müssen nur noch in wenigen Fällen getragen werden. Ganz anders sieht es in Deutschland aus – an Lockerungen will die Politik dort noch nicht denken. Viele Deutsche beneiden deshalb die Schweiz um ihre neuen Freiheiten.
Der Schweizer Politologe Gerald Schneider (59) erklärt, warum die Unterschiede zwischen der Schweiz und Deutschland trotz der Nähe so gross sind. «Wir Schweizer sind schon so konditioniert, dass wir uns nichts sagen lassen», sagt er gegenüber dem «Südkurier». In Deutschland hingegen sei der Einfluss der Behörden viel stärker und werde auch mehr hingenommen. «Das müssen Sie in der Schweiz alles rechtfertigen», sagt er. Schneider lebt selbst seit 25 Jahren in Deutschland und unterrichtet Internationale Politik an der Universität Konstanz.
Massnahmen werden nicht hinterfragt
Für Schneider ist klar: Durch die direkte Demokratie und die ständigen Abstimmungen gebe es in der Schweiz den Druck der Strasse. Dagegen könne sich die Regierung nicht so leicht stellen. In der Schweiz sei auch der Einfluss von rechtspopulistischen Strömungen grösser. Deshalb gebe man der Stimmung in der Bevölkerung eher nach. Damit wolle man sich auch Wählerstimmen sichern – für Schneider geht das allerdings schon zu weit.
Und: In der Schweiz gibt es laut dem Politologen ein «institutionalisiertes Querulantentum» – man misstraue dem Staat. Im Nachbarland Deutschland sei das weniger ausgeprägt. Man halte sich an die Massnahmen und hinterfrage sie nicht, selbst wenn sie keinen Sinn machen würden.
Weniger von oben herab
Schneider bemängelt in Deutschland, dass die öffentliche Verwaltung nicht sehr bürgernah ist. Beispielsweise würden Luftfilter ewig nicht angeschafft werden, und die Digitalisierung gehe unheimlich langsam voran. Eigentlich müsste nach zwei Jahren Pandemie vieles besser funktionieren – es sei zum Teil aber immer noch schwierig, einen Impftermin zu bekommen. Auch der Ton sei ein anderer als in der Schweiz: «Ständig diese Verordnungen, in denen alles im Detail geregelt ist, was verboten ist.»
Zwar gebe es auch in der Schweiz Verordnungen, diese würden aber viel klarer und positiver kommuniziert. Im allgemeinen werde viel aufmunternder und weniger von oben herab kommuniziert, sagt er. (bra)