Darum gehts
Plötzlich dieses gleissende Licht. Die Augen gewöhnen sich nur langsam daran, als der Intercity bei Raron VS den Lötschbergtunnel verlässt. Dann endlich weitet sich der Blick, und überall erheben sich Berge.
An ihren Hängen kleben kleine Häuser. Verwegen sieht es aus, fast unnatürlich. Wie die weltberühmten Steinböcke, die hoch in der Staumauer stehen, um an Mineralsalzen zu lecken. Tiere können das. Aber der Mensch? Er hat dort oben gebaut, um der Gefahr von unten zu trotzen, der Urgewalt des Flusses im Tal. Ein raumplanerisches Memento mori: Leben in den Bergen ist gefährlich.
Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.
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Vielleicht handeln deshalb so viele Bücher davon. Berge, gerade wenn sie in Bewegung sind, eignen sich hervorragend für Dramen. Bei Max Frisch («Der Mensch erscheint im Holozän») heisst es: «Niemand im Dorf glaubt, dass eines Tages oder in der Nacht einmal der ganze Berg ins Rutschen kommt und das Dorf verschüttet für alle Zeit.» Bei Charles Ferdinand Ramuz geschieht in «Derborence» ebendas.
Ein grollendes Monster erwacht
Auch der Walliser Schriftsteller Wilfried Meichtry hat dem Genre vor zwei Jahren eine literarische Perle hinzugefügt. Sein Roman «Nach oben sinken» beginnt dort, wo der Zug jetzt hält, in Leuk. Es ist ein Freitagnachmittag Ende Juni, einen Monat nach der Katastrophe von Blatten.
Meichtrys Buch, das von seiner eigenen Biografie durchtränkt ist, erzählt vom Aufwachsen in den Bergen. Unweit vom Bahnhof, direkt am Hexenplatz, hat er als kleiner Bub in Grossmutters Bett nächtens wach gelegen, als der Illbach vor dem Fenster zum grollenden Monster angeschwollen war und sein Geschiebe in die Rhone verfrachtet hatte.
Seine Heimatgemeinde, wird der 60-Jährige später dem Beobachter erzählen, sei im Prinzip auf einem gigantischen Schuttkegel erbaut worden. Wer in Susten, im Talgrund von Leuk, für ein Fundament gräbt oder einen Baum pflanzt, stösst zunächst auf gelbliches, an Polenta erinnerndes Material, das bei Regen ganz zuhinterst im Tal abgelöst wird. Die Einheimischen nennen es den «Illdräck».
Heute lebt Meichtry im bernischen Burgdorf. Das Wallis hat ihn aber nie losgelassen. Im ersten Kapitel von «Nach oben sinken» übt seine Familie den Ernstfall, die Evakuation für den Fall, dass der Illbach anschwillt und über die Ufer tritt. Nach dem Sirenensignal habe man fünf Minuten Zeit, so der Vater: «Dann wird die Schlammlawine alles unter sich begraben.» Mit einem Koffer, in den man nur das Nötigste gepackt hat, rennt die Familie also mitten in der Nacht den Hügel zur Ringackerkapelle hinauf.
Als Meichtry einmal in Leuk aus seinem Roman vorgelesen hatte, meinte jemand im Publikum: «Jedes Mal, wenn wir über die Rottenbrücke gehen, denken wir an euch. Wie ihr darübergerannt seid.» Dabei sei die Geschichte frei erfunden, sagt Meichtry zum Beobachter. «Nur manchmal ist die Fiktion eben wahrer als die Realität.» Im Kern erzählt die Episode von einem Lebensgefühl, das alle in den Bergen kennen, von der ständigen Angst nämlich, dass Pegel steigen oder etwas ins Tal donnert.
Ein Dorf versinkt
Wilfried Meichtry sitzt im Restaurant Krone im alten Dorfteil Leuks, oberhalb der Ringackerkapelle. Vor ihm ein Teller mit Chicken Nuggets und Nudeln, die sein Cousin in der Küche zubereitet hat, hinter ihm am Tisch sein ehemaliger Oberstufenlehrer beim Weissen.
Man prostet sich zu. Und man redet über Blatten, den verwüsteten Ort. Über das Dorf im benachbarten Lötschental, das einen Monat zuvor aufgehört hat zu existieren, als ein gewaltiger Gletscherabbruch vom Kleinen Nesthorn niederging. Auch Meichtry kennt Leute von dort. Ein Freund und dessen 94-jährige Mutter haben bei der Katastrophe alles verloren.
Als es passierte, sass Wilfried Meichtry zu Hause am Computer und verfolgte quasi in Echtzeit diesen schlimmstmöglichen Ausgang eines angekündigten Bergsturzes. Dass man nichts machen könne, ausser zuzuschauen, wie Häuser, die noch standen, in den Fluten versinken. Das mache ihn tief betroffen, sagt Meichtry, und er frage sich: «Was kommt da noch auf uns zu?»
Sicher ist: Der Permafrost taut auf und setzt die Hänge in Bewegung. In Westeuropa war der vergangene Juni der wärmste seit Beginn der Aufzeichnungen. Extreme Niederschläge, die zu verheerenden Murgängen und Überschwemmungen führen, wie sie vor rund einem Jahr etwa das Misox in Graubünden oder das Tessiner Maggiatal heimgesucht hatten, nehmen zu. Gleichzeitig wachsen die auf den Gefahrenkarten eingezeichneten roten Flächen.
Bleibt bloss die Flucht?
Das alles rüttelt an einem Tabu: Müssen wir bestimmte Täler und Dörfer aufgeben? Ist das Leben in den Bergen möglicherweise zu gefährlich geworden?
Er sei kein Experte und auch kein Politiker, sagt Meichtry, und er wünsche es selbstverständlich niemandem, seine Heimat so abrupt verlassen zu müssen. Wenn man aber betrachte, was alles so passiere in jüngster Zeit, könne man einen geordneten Rückzug aus gefährdeten Gebieten nicht kategorisch ausschliessen. «Das wäre unseriös.»
Es wirkt absurd: Diese Häuser an den Walliser Hängen, dicht an dicht gebaut als eigentliche Trutzburgen gegen die Widrigkeiten des Wetters, bieten plötzlich und trotz sämtlicher Schutzmassnahmen keine genügende Sicherheit mehr. Aber wohin flüchten? Die Bevölkerung wächst, der Raum tut es nicht.
Als Meichtry als junger Mann das Wallis verliess, hatte das nichts mit dem Permafrost zu tun. Aber sehr viel mit der Topografie, mit den Bergen im Norden und Süden, die auf ihn wie Barrieren wirkten, äusserlich und innerlich. «Die einzige Richtung, in der der Blick frei war, zeigte senkrecht nach oben in den Himmel, zum lieben Gott.»
Meichtry wollte sein Leben aber in die eigenen Hände nehmen. Er studierte in Freiburg, wurde Lehrer, kam zurück nach Leuk, nur um kurze Zeit später das Wallis erneut Richtung Uni zu verlassen. Weil es ihm im Dorf abermals zu eng wurde.
Für seine Dissertation forschte er über einen der berühmtesten Söhne Leuks, Franz von Werra (1914–1941), der während des Zweiten Weltkriegs als Nazi-Fliegerass und Ausbrecherkönig für Furore sorgte. Mit dem Buch («The Escape Artist. Das Schicksal der Geschwister von Werra»), das aus dieser Arbeit entstand und soeben in einer Neuauflage erschienen ist, schaffte Meichtry den Durchbruch als Schriftsteller.
Es sei eine Zeitenwende im Gang, sagt Meichtry. Eine Generation, die das Gefühl hatte, man habe alles im Griff, werde auf die Probe gestellt. Darum macht es ihn fassungslos, dass gewisse Kreise den Tatsachen noch immer nicht ins Auge schauen wollen: Weiter wie bisher? Wohl besser nicht. Brienz GR ist seit Monaten evakuiert, weil ein Bergsturz droht. In Kandersteg BE fürchten sie sich vor dem Spitzen Stein, vor den Millionen Tonnen Fels und Geröll, die in Bewegung sind. Und das ist vermutlich nur der Anfang.
Der Weg sei eigentlich klar, sagt Meichtry, er führe über Verzicht. Von dieser Einsicht sei momentan aber leider nicht viel zu sehen: Die Familien werden kleiner, die Autos grösser. Und die Anzahl der Flugbewegungen ist fast zurück auf Vor-Corona-Niveau.
«Es ist frustrierend, wie unsäglich kurzfristig unser Horizont ist», sagt Meichtry zum Beobachter. Viele Leute würden sich heute über mangelnde Sinnhaftigkeit in ihren Leben beklagen. Dabei gäbe es nur etwas tatsächlich Sinnvolles zu tun: dafür zu sorgen nämlich, dass wir unseren Kindern und Enkelkindern einen Planeten hinterlassen, auf dem ein gutes Dasein noch möglich ist. «Die Menschheit wird nur überleben, wenn sie geistig wächst – und nicht bloss materiell.»