Recep Tayyip Erdogan (65) kommt schon wieder zu spät. Wie bei seinem Propagandaauftritt im noblen «Four Seasons» am Vortag lässt der türkische Machthaber auch beim UN-Flüchtlingsforum am Dienstag alle auf sich warten. Erst 45 Minuten nach Beginn betritt er den Völkerbundpalast in Genf.
Der Unterschied: Während er sich am Montag feiern liess, gab er sich einen Tag später unnahbar, hält beim Einlaufen nicht an, schüttelt keine Hände, wechselt keine freundlichen Worte. In der Aula unterbricht Aussenminister Ignazio Cassis (58), Gastgeber des ersten Globalen Flüchtlingsforums, kurz seine Rede. Der wichtigste Gast ist schliesslich jetzt da: Der Mann, der Europa die Flüchtlinge vom Leib hält.
Erdogan will Syrer umsiedeln
Erdogan erinnert gern an seine Dienste. «Wir haben die meisten Flüchtlinge aufgenommen», sagt er bei seinem Eröffnungsstatement an den Staatenbund. Und fordert: «Das Flüchtlingsforum sollte uns helfen.» 3,7 Millionen Syrer haben in der Türkei Zuflucht gefunden. Erdogan erinnert an die vielen Kriegstoten in dem seit neun Jahren tobenden Konflikt. Und provoziert: «Wenn das Blut der Kinder Öl wäre, hätte sich schon längst jemand gekümmert!»
Nach Genf ist der türkische Machthaber mit einer klaren Agenda gekommen. Er will Unterstützung für sein «Umsiedlungsprogramm». Denn die syrischen Flüchtlinge will Erdogan keinesfalls dauerhaft aufnehmen, sondern in die kurdischen Gebiete in Nordsyrien umsiedeln.
«Schlächter, Schlächter!»
Während Erdogan im Saal spricht, laufen draussen seine Gegner auf. Rund 300 sind gekommen, linke Aktivisten und Kurden haben mobilisiert. Trotz einer lauten Strasse dringen ihre Rufe bis zum Völkerbundpalast. «Schlächter, Schlächter!», rufen sie.
Denn Erdogan hat das Umsiedlungsprogramm längst gewaltsam begonnen – zum Leid der Kurden. Seit Oktober läuft die türkische Militäroffensive unter dem Namen «Operation Olivenzweig» in Nordsyrien, international stösst sie auf scharfe Kritik.
Erdogan erpresst die EU
Vor den Vereinten Nationen klagt Erdogan: «Vielen politischen Führern gefällt meine Idee, aber niemand unterstützt uns.» Tatsächlich sind besonders die EU-Länder nach Erdogans Offensive erstaunlich still gewesen. Das liegt auch daran, dass Erdogan sie in der Hand hat. Nach der Flüchtlingskrise 2015 schloss die EU mit der Türkei ein Abkommen. Der Deal: Geld gegen Grenzschutz.
Gegenüber der EU lässt Erdogan seither regelmässig die Muskeln spielen. Fast zeitgleich mit seiner Rede melden die Agenturen, dass die griechische Küstenwache innert 24 Stunden 136 Migranten in der Ägäis aufgegriffen hat. Weiteren 338 ist es gelungen, mit Booten die griechischen Inseln sowie die Hafenstadt Alexandroupoli auf dem griechischen Festland zu erreichen. Sie alle sind aus der Türkei gestartet.
Die Nachricht aus Griechenland unterstreicht Erdogans Rede wie ein Warnsignal an Europa: Unterstützt mich, sonst droht Ärger!