Montagmorgen, 8 Uhr: Olivier L.* (39), der Sekundarlehrer aus Hochdorf LU, steht vor der Tür seiner Ex-Frau in Frankreich. Er will seinen Sohn Luc sehen.
Der Besuch kommt für Rachida L.* überraschend. Sie erschrickt. Normalerweise kommt der Sek-Lehrer nur am Wochenende nach La Bresse (F). Unter der Woche unterrichtet er Fremdsprachen im Luzerner Seetal.
Seit der Trennung streiten die beiden ums Sorgerecht für den kleinen Luc. Nach der Scheidung im letzten Jahr sprach das Gericht Rachida L. den Buben zu, Olivier L. erhielt ein Besuchsrecht.
Doch dann eröffnete ihm die Ex-Frau, dass sie in ihre Heimat nach Marokko umziehen wolle. Ihr neuer Freund soll künftig die Vaterrolle übernehmen. Olivier L. könnte dann seinen Sohn, der Tausende Kilometer weit weg wohnt, nur noch ganz selten sehen.
Die Polizisten glauben den Worten des Vaters
Am Montagmorgen lässt Olivier L. nicht locker. Er will seinen Sohn sehen. Was tun? Die Mutter ruft die Polizei.
Die Beamten fahren zur Wohnung der Marokkanerin. Der Lehrer erklärt ihnen, er wolle lediglich seinen Sohn zur Schule fahren.
Die Polizisten glauben seinen Worten und verhindern nicht, dass der Vater den kleinen Luc mitnehmen kann. Ihre Intervention scheint die Mutter Rachida derart beeindruckt zu haben, dass sie den Widerstand aufgibt.
Was für eine Fehleinschätzung der Polizisten!
Olivier L. fährt nicht zu Lucs Schule, die sich im Zentrum von La Bresse befindet. Er fährt Richtung Schweiz. Noch vor der Grenze, in Habsheim (F), hält er an.
Um 10 Uhr stürzt er sich vor den Zug (gestern im BLICK). Seinen Bub hält er fest in den Armen und reisst ihn mit in den Tod. Der Lokführer hat keine Chance zu bremsen, als er die beiden aus dem Gebüsch hervorkommen sieht.
Am Mittag will die Babysitterin Luc von der Schule abholen. Doch er ist nicht dort. Die Mutter ahnt sofort Schreckliches. Sie ruft erneut die Polizei. Wenig später hat sie die traurige Gewissheit. Luc und ihr Ex-Mann sind tot.
Rachida L. besuchte ihren Ex-Mann nur selten
Hat Olivier L. aus lauter Verzweiflung gehandelt? Der Sohn war sein Ein und Alles. Seinen Schülern hat er oft von ihm erzählt, hat erklärt, wie stolz und glücklich er doch sei. Jedes Wochenende fuhr Olivier L. fast 200 Kilometer, um seinen Buben zu sehen.
Als der Franzose vor neun Jahren die Stelle in Hochdorf antrat, pendelte er anfänglich die lange Strecke. Schon bald wurde ihm der Weg zu anstrengend und er nahm sich eine Wohnung im Seetal.
Er behielt aber seinen Wohnsitz am südwestlichen Rand der Vogesen. Dort lebte er mit seiner Freundin Rachida in einem Haus. Kurz vor Lucs Geburt heirateten sie.
Die Menschen in La Bresse sind schockiert
Rachida L. besuchte ihren Mann selten in Kleinwangen LU. «Wir haben sie und den kleinen Luc fast nie hier gesehen», erzählt Vermieterin Maria Winiger (81). Ausser im letzten Herbst. Da war Luc wochenlang bei seinem Vater. «Das Ehepaar war in Scheidung», sagt Winiger.
Olivier L. habe ihr erzählt, dass seine Ex-Frau in ihre Heimat zurückwolle. «Das hat ihn schwer getroffen.» Schliesslich habe er sich schon darüber aufgeregt, dass Luc in Frankreich so früh zur Schule gehen müsse und nicht zur gleichen Zeit Ferien habe wie er.
In La Bresse sind die Menschen schockiert. Bastien (19) hat zwei Jahre lang neben der Familie gewohnt: «Ich hab Luc oft gesehen. Ich kann nicht glauben, dass der Kleine jetzt tot ist.»
Auch in Hochdorf ist die Trauer um den Lehrer und seinen Sohn riesig. «Mit seinem französischen Charme konnte er viele Schülerinnen und Schüler für die französische Lebensart und Sprache begeistern», schreibt die Schule Hochdorf in der Todesanzeige. Olivier L. habe für die Schule viel Gutes getan. «Er hinterlässt eine grosse Lücke und wird uns immer in guter Erinnerung bleiben.»