«Wissen Sie, warum mein Klient heute nicht vor Gericht erscheint? Weil er ein menschliches Wrack ist. Treten Sie bitte nicht auf jemanden ein, der schon am Boden liegt!» Markig ist das Plädoyer des Anwalts von Monsieur Luc*. Der Pflichtverteidiger streckt vor dem Bezirksgericht Vevey VD zwei Fotos in die Höhe. Auf dem ersten grinst der Angeklagte in die Kamera, scheint unverwundbar. Da war er noch Leiter der Internatsabteilung an der Elite-Schule Beau Soleil in Villars-sur-Ollon VD. Ganz anders auf dem zweiten Bild: Monsieur Luc wirkt ausgelaugt. Das Gesicht des 57-Jährigen ist aufgedunsen, das Haar zerzaust, der Blick seltsam glasig, unter den Augen zeichnen sich Ringe ab. Zwischen den beiden Fotos des Geschichtslehrers liegen 13 Jahre. Gealtert ist er aber, so scheint es, um das Doppelte.
Das hat Gründe. In der Zwischenzeit haben zwei seiner früheren Schüler allen Mut gefasst und ihn angezeigt – aller Scham zum Trotz (BLICK von gestern). Monsieur Luc steht wegen sexuellen Missbrauchs vor Gericht. Bis vor kurzem gab er in seiner Heimat Kanada Golfstunden – auch an Jugendliche. Nächstes Jahr würden seine Taten verjähren. Doch dank der Anklage lüftet sich der Schleier über der düsteren Vergangenheit des Monsieur Luc nun doch noch.
Tadellose Referenzen
Es begann im Jahr 2000, als sich Monsieur Luc an der exklusiven Privatschule Beau Soleil bewirbt. Der Lebenslauf ist überzeugend, die Referenzen sind tadellos. Im Gespräch strahlt der in Oxford ausgebildete Monsieur Luc viel Autorität aus. Die Verantwortlichen des Waadtländer Nobelinternats sind beeindruckt. Der schlanke 40-Jährige bekommt den Posten des Internatsleiters in dieser Einrichtung, wo Hierarchie alles ist. Rasch wird Monsieur Lucs Beruf zur Berufung. «Er arbeitete rund um die Uhr, auch an freien Tagen, und war für die Schüler immer da», erzählte die spanische Leiterin der Mädchenabteilung gestern vor Gericht. Mit ihr hatte Monsieur Luc einst ein Verhältnis. Um seine pädophilen Neigungen zu vertuschen? «Niemand weiss es – ausser Monsieur Luc selber», erklärt Véronique Fontana, die Anwältin der Opfer. Aus den Akten gehe aber hervor: Wirklich erregt habe ihn die Liebschaft kaum.
Monsieur Luc fährt auf anderes ab: Musik von Johnny Cash, Live-Sport im Fernsehen, täglichen Alkohol und vor allem auf seine 180 Schüler – oder auch: Buben. Alle schauen sie hoch zu ihrem wortgewandten Lehrer, der viel Charisma besitzt und vor Männlichkeit strotzt. Monsieur Luc hat die Zügel in der Hand. Er entscheidet, ob es ein freies Wochenende gibt oder nicht. «Für gute Leistungen, besonders im Sport, gab es stets Glückwünsche. Das machte uns stolz, denn wir mochten ihn sehr»,
berichtet David*, eines der Opfer, vor Gericht. «Baute man in seinen Augen aber Mist, dann wurde er aggressiv, manchmal sogar gewalttätig.» Aus seinen ersten Tagen im Beau Soleil ist David eine Begegnung besonders geblieben: Luc sagt ihm, nur Schwuchteln würden Pyjamas tragen. Von da an schläft er nur noch in Boxershorts.
Er nutzte die Schwäche der Kinder gnadenlos aus
Viele Buben sehen in Monsieur Luc eine Vaterfigur. Er lebt in einer eigenen Wohnung mitten auf dem Campus. Tagsüber setzt er die rigiden Internatsvorschriften mit aller Härte durch. Am Abend setzt er sich leichten Herzens darüber hinweg. Er lädt seine Schützlinge zu sich ein. Der Fernseher läuft, der Alkohol fliesst. Die Flaschen sind häufig Geschenke von den reichen Eltern der Kinder. Auch Zigaretten – Rauchen ist im Internat verboten – sind in diesem Raum nicht tabu. «Wir waren schwach, und das nutzte er gnadenlos aus. Meine Eltern standen damals kurz vor der Scheidung», erinnert sich Miguel*, der zweite Kläger neben David vor Gericht. «Dickerchen» habe ihn Monsieur Luc stets genannt, weil er einem seiner früheren Schüler in Kanada geglichen habe. «Monsieur Luc ist ein kranker Mann. Er war fast schon verliebt in uns.» Fast schon? Vielleicht war er es wirklich. Denn viele Pädophile – gerade solche, die sich Pubertierenden zugeneigt fühlen – wähnen sich in einer gewöhnlichen Beziehung.
Wahrscheinlich gibts mehr als drei Opfer
An einem dieser Abende ordnet Monsieur Luc an, dass David und Miguel in seinem Zimmer übernachten. «Er wollte angeblich verhindern, dass wir beim Erbrechen ersticken. Das war sein Vorwand», erinnert sich David. Nachdem die Buben eingeschlafen sind, legt sich Luc zu ihnen, fasst David ans Geschlechtsteil und steckt seine Finger in Miguels After. Ein anderes Mal, als er sich eine Verletzung an Davids Steissbein ansehen will, entblösst Luc plötzlich seinen Penis. Eines Nachts kommt Monsieur Luc zudem in Davids Zimmer, zieht ihm die Unterhose aus und beleuchtet das Glied mit einer Taschenlampe. Am Morgen nach den öfters stattfindenden Partys will Monsieur Luc die noch betrunkenen Kinder zudem regelmässig abduschen. Um sie zu wecken, wie er sagt.
«Von drei weiteren Opfern wissen wir, das geht aus der Untersuchung hervor. Aber wahrscheinlich gibt es noch mehr», vermutet Opfer-Anwältin Fontana. Sie denkt dabei vor allem an jene Internate, in denen Monsieur Luc vor seiner Zeit im Beau Soleil gearbeitet hat.
Die Richterin hat gestern entschieden, über den Antrag der Staatsanwaltschaft hinauszugehen und Monsieur Luc wegen «sexueller Handlung mit urteilsunfähigen oder zum Widerstand unfähigen Kindern» zu belangen. Der Staatsanwalt fordert zwei Jahre Gefängnis, die Verteidigung einen Freispruch. Das Urteil fällt heute.
* Namen der Redaktion bekannt
Übersetzung aus dem Französischen: Silvan Kämpfen
Der Journalist Laurent Grabet kennt alle Beteiligten persönlich, da er zur damaligen Zeit im Beau Soleil arbeitete.