Alain Rittiner, wie war das, als am Dienstag kurz nach 21 Uhr der Alarm bei Ihnen einging?
Alain Rittiner: Ich war zu Hause bei meiner Familie, hatte eben meine beiden Töchter, die 10- und 13-jährig sind, ins Bett gebracht und sass mit meiner Frau vor dem Fernseher. Die Meldung «P1 vraiment urgent» liess mich aufschrecken. Es war von einem schweren Busunglück mit Toten und Verletzten die Rede. Ich habe mich sofort auf den Weg gemacht.
Was waren Ihre ersten Massnahmen?
Während der acht Minuten langen Fahrt bis zum Unfallort konnten wir Helikopter anfordern und Sanitäten aufbieten. Der Fahrer der Ambulanz rief uns an. «Kommt schnell, es ist die Hölle, helft mir!» Er hat nur geschrien. Da wusste ich, dass etwas Schreckliches passiert ist.
Was fühlten Sie, als Sie vor dem Bus standen?
Ich dachte, das gibt es nicht! Da merkte ich, dass alles voller Kinder war. Ich war wie blockiert. «Warum passiert so was?», hab ich mich gefragt. Dann hab ich die Schreie der Kinder gehört. Sie haben richtiggehend geheult. Das ging tief. Ich verlasse meine eigenen Kinder, habe sie eben noch ins Bett gebracht. Und hier sehe ich all die verletzten und toten Kinder. Es war unerträglich.
Haben Sie sofort mit der Rettung beginnen können?
Nein, wir mussten auf die Feuerwehr warten. Alle Türen des Busses waren verklemmt oder zu nah an der Tunnelwand. Zudem hatten wir Angst vor einem Brand im Tunnel. Dann wäre die Katastrophe noch viel grösser gewesen. So haben wir leider einige Minuten verloren. Aber der Feuerschutz geht vor.
Die Feuerwehr schnitt den Bus auf und brachte Leitern.
Mit Hilfe der Leitern schafften es die Retter, endlich einzusteigen. Etwa sieben Kinder konnten sich selbst befreien. Sie krochen unter den Sitzen hindurch und kletterten aus den Fenstern. Die anderen waren furchtbar eingeklemmt. Die Polizei war als Erstes vor Ort. Die Beamten versuchten, die Kinder zu beruhigen. Der einzige Vorteil war: Wir konnten schnell arbeiten, denn es gab keine Gaffer. Der Rest war der reinste Horror.
Wie ging die Rettung vonstatten?
Wir mussten hinten anfangen, der vordere Teil des Buses war ja komplett eingedrückt. Die Sitze waren aus der Verankerung gerissen und nach vorne geschleudert worden. Die Sitzreihen sahen aus wie eine zusammengedrückte Handorgel. Im hintersten Teil des Busses war alles leer. Gespenstisch. Vorne hörten wir immer wieder diese grässlichen Schreie. Man kann den Kopf wegdrehen, aber solche Schreie gehen durch Mark und Bein. Alles war voll Blut. Wir haben uns Sitzreihe um Sitzreihe nach vorne gekämpft.
Vorne waren die schwer verletzten Kinder.
Ja. Aber wir konnten ihnen nicht helfen. Von Podesten aus kümmerten sich Ärzte um sie. Sie haben sie gestreichelt, mit ihnen geredet und ihnen die Hand gehalten. Wir wollten ihnen zeigen, dass sie nicht allein sind. Einige Kinder sind im Bus gestorben. Wir konnten nicht schnell genug zu ihnen vorstossen. Aber keines der Kinder musste allein sterben. Wir waren bis zum Ende bei ihnen.
Sie standen vor dem Bus, koordinierten den Einsatz. Was haben Sie Ihren Leuten gesagt?
Schaut die Kinder nicht an! Das
ertragt ihr nicht. Gebt sie einfach raus. Vor dem Car haben wir sie eingeteilt. Die schwersten Fälle wurden mit sechs Helikoptern direkt in die Spitäler geflogen, die weniger schwer Verletzten noch im Tunnel erstversorgt.
Was haben Sie gedacht?
Es war hart. Ich konnte nicht helfen, ich musste koordinieren. Ich wäre lieber ein einfacher Sanitäter gewesen. Warum bin ich nur Chef? Ich will doch Leben retten. In diesem Moment habe ich mich sehr einsam gefühlt. Aber es braucht Leute, die solche Grosseinsätze koordinieren. Nicht auszudenken, was passieren kann, wenn sechs Helikopter nachts in der Luft sind und man keinen kühlen Kopf bewahrt. Während der ganzen Aktion hab ich den kalten Tunnel nie verlassen.
Welche Probleme machten es den Rettern besonders schwer?
Dass wir die Kinder nicht verstehen konnten. Wir haben nur mit Blicken kommuniziert, das hat nach einigen Minuten sehr gut funktioniert. Es gab Kinder, die wollten uns nicht mehr loslassen, sie haben sich mit enormer Kraft an uns festgeklammert, so gross war ihre Todesangst. Die Schreie waren schlimm. Aber solange ein Kind schreit, ist es ein gutes Zeichen. Nach einer Weile wurde es immer ruhiger. Kein gutes Zeichen. Viele Kinder konnten einfach nicht mehr. Sie wurden ohnmächtig oder sind gestorben. Diese Stille war unerträglich. Einzelne Lebenszeichen gaben uns aber die Kraft weiterzumachen. Ich wurde nicht müde, hatte keinen Hunger, musste nicht aufs WC – ich wollte nur die Kinder retten.
Wie war die Stimmung im Team?
Dienstgrade spielten keine Rolle mehr. Die 200 Retter waren wie eine grosse Familie. Wir haben gemeinsam um jedes einzelne Leben gekämpft. Es gab extreme Situationen. Einige Retter waren schwer mitgenommen. Ein Psychologe war im Tunnel. Er hat sich um die Leute gekümmert, mit ihnen geredet, ihnen Mut gemacht. Viele gingen danach zurück zur Arbeit.
Gab es auch Retter, die den Anblick nicht ertragen konnten?
Einige brachen zusammen. Sie hatten zu viel Schreckliches gesehen. Man darf nicht vergessen: Das sind alles keine Profis. Im Alltag sind sie Bäcker oder Schreiner. Ich verstehe es, wenn es dem einen oder andern zu viel wird.
Wie haben Sie den Einsatz abgeschlossen?
Die Retter sassen bei einem Glas Wein zusammen und besprachen den Einsatz. Die meisten hatten Tränen in den Augen. Einige brachen zusammen. Aber es hat ihnen geholfen, sich mit Kollegen auszutauschen. Falls sie es wünschen, werden sie psychologisch betreut.
Gab es einen Punkt, an dem auch Sie nicht mehr konnten?
Als ich im Auto sass und die Tür zugezogen hatte, da weinte ich los. Hab ich das alles nur geträumt? Ich schaute in den Rückspiegel und sah, dass es kein Traum war.
Haben Sie je einen solch extremen Einsatz erlebt?
Nein, das war der schlimmste Einsatz in meiner 20-jährigen Karriere als Sanitäter. Ich hab schon viele schwere Unfälle
gesehen, viele Tote. Aber 22 tote Kinder und das erst noch in einem Tunnel, so etwas ist unerträglich.
Wie war es, als Sie nach Hause kamen?
Das werde ich nie vergessen. Ich bin sofort in die Zimmer meiner Töchter gerannt, habe kontrolliert, ob sie noch leben. Sie lagen so da, wie ich sie am Abend ins Bett gebracht hatte. Ein wahnsinnig bewegender Moment. Ich habe sie sanft auf die Stirn geküsst. Danach wurde ich unendlich traurig. Ich bin ein Egoist, dachte ich. Ich kann meine Kinder umarmen. Die Eltern der toten Kinder können das nicht mehr. Ich machte mir Vorwürfe, dass ich nicht mehr Kinder gerettet habe. Ich fühlte mich schuldig. Erst im Zimmer meiner Kinder wurde mir die Tragweite bewusst.
Wie geht es Ihnen jetzt?
Ich habe in den vergangenen vier Tagen ganze acht Stunden geschlafen. Ich bin am Anschlag, aber die Arbeit geht weiter. Am Vormittag gehts noch einigermassen. Am Nachmittag bin ich am Ende meiner Kräfte und etwas gereizt. Nach und nach wird mir bewusst, dass es ein Leben vor und eines nach dem Unfall geben wird. Es wird vieles nicht mehr so sein wie vor einer Woche. Wie sich aber mein Leben verändert, kann ich noch nicht sagen. Ich stecke noch zu tief in der Arbeit.
Haben Sie Albträume?
Nein, zum Glück nicht. Aber ich hab die schlimmen Bilder und Töne immer im Kopf. Ich versuche sie ins Positive zu transformieren. Auch meine Familie ist stark betroffen, ich war vier Tage nicht zu Hause. Die Töchter
haben im Fernseher die schlimmen Bilder gesehen. Sie stellen mir viele Fragen. Das hilft mir bei der Verarbeitung.
Welche Szene werden Sie nie vergessen?
Ein junges Mädchen, es war fürchterlich eingeklemmt, hat nach mir gerufen. Während des gesamten Einsatzes schaute sie mich an, sagte aber kein Wort. Ich dachte, das ist meine Tochter. Wir wussten, dass sie eine Stunde würde warten müssen, bis wir sie rausholen können. Das war schrecklich. Ich weiss nicht, ob sie überlebt hat, sie war schwer verletzt. Für mich aber lebt sie. Ich würde es nicht ertragen, wenn sie gestorben wäre.
Wie haben Sie die Bergung des Chauffeurs erlebt?
Wir mussten den Car zurückziehen, um zu ihm zu gelangen. Er ist wohl sofort tot gewesen. Wir haben ihn mit grossem Respekt geborgen. Es war ganz still im Tunnel. Wir mussten ihn aus dem Wrack schneiden. Ein schrecklicher Anblick. Die Gerüchte in den Medien, dass er schuld sei am Unfall, nerven mich. Er hat doch nur seinen Job gemacht.
Machen Sie sich Vorwürfe?
Ja, manchmal schon. Aber wir alle haben alles gegeben, sind über unsere Grenzen hinausgegangen. Wir haben einige Leben gerettet. Man kann im Leben nicht alles gewinnen. Das muss man sich immer wieder sagen.
Nehmen Sie Hilfe in Anspruch?
Ja, ich besuche einen Psychologen. Ich finde noch keine Worte für das, was wir erlebt haben. Ich tausche mich auch mit meinen Kollegen aus. Am Wochenende gehe ich ohne Handy in die Berge, ich brauche Ruhe. Mein Arzt wird mich wohl bald für eine Woche in die Ferien schicken.
Hatten Sie Kontakt mit den Eltern der toten Kinder?
Nein, aber ich kann den Angehörigen versichern, dass wir alles getan haben, um ihre Kinder lebend aus dem Bus rauszubekommen. Für zwei, drei Stunden waren das unsere Kinder. Ich kann die trauernden Eltern beruhigen: Ihre Kinder sind nicht allein gestorben. Wir waren immer bei ihnen.
Werden Sie Ihre Kinder jetzt noch mit einem Car auf eine Schulreise lassen?
Ja, ohne zu zögern. Das Leben geht weiter. Und meine Töchter sollen so leben können wie ihre Kolleginnen. Das Risiko, dass
etwas so Dramatisches passiert, ist zum Glück sehr klein.