Sie ist eine Überlebende. Sie war 21 Jahre alt im Jahr 2001, als Fabrice A. sie gefangen hielt, mit dem Tode bedrohte und vergewaltigte. Nun spricht sie erstmals über ihre Geschichte und ihre Ängste mit «24 Heures».
Fabrice A. steht ab nächster Woche in Genf vor Gericht, weil er die Genfer Sozialtherapeutin Adeline brutal ermordet hatte – und das während eines begleiteten Freigangs zu einer Reittherapie, die er im Rahmen seiner Haftstrafe besuchte.
Die in Genf wohnende Frau will anonym bleiben. Sie kann noch immer nicht verstehen, wie es soweit kommen konnte, dass der Sextäter eine weitere junge Frau in seine Gewalt bringen konnte. Sie macht der Schweizer Justiz grosse Vorwürfe. «Ich hatte bis zum Mord nicht einmal gewusst, dass er zurück in Genf ist und bereits wieder auf freiem Fuss.» Denn Fabrice A. wurde in ihrem Fall in Frankreich verurteilt – später an die Schweiz überstellt.
«Dein Blut wird aus der Kehle spritzen»
Der Täter hatte sie in Handschellen an einem Waldrand festgehalten. Unter dem Vorwand einer Wohnungsbesichtigung war er zuvor mit ihr über die Grenze gefahren. «Er hat mir gedroht, die Kehle durchzuschneiden.»
A. habe ihr im Detail geschildert, wie ihr Blut aus ihrer Kehle spritzen würde. Für sie war klar: «Schon damals hatte er den Wunsch zu morden.» Sie selbst überlebte.
Kein Vertrauen mehr in Schweizer Justiz
Der bevorstehende Prozess weckt bei ihr tiefe Emotionen. Der Fall Adeline und ihr eigenes Schicksal gleichen sich sehr. «Ich habe Angst, dass nächste Woche wieder dieselben Fehler bei Gericht begannen werden, wie schon zuvor.»
Das Vertrauen in die Schweizer Justiz hat sie verloren. «Die Definition von Vergewaltigung in der Schweiz, ist eine der restriktivsten der Welt. Viele Opfer zeigen ihren Peiniger nicht an, weil der Prozess schmerzhaft und entmutigend ist. Denn die Schweiz ist noch immer weit davon entfernt, den Ernst der Vergewaltigung zu realisieren.»
Den Prozess wird sie im Gerichtssaal mitverfolgen. «Das Schicksal von Adeline hat mein Leben sehr verändert.» Sie habe aber gelernt, nach vorne zuschauen. «Gerade in diesen Tagen ist die Unterstützung meiner Familie und Freunde gross.»
Fall Adeline
Dem Tötungsdelikt der Sozialtherapeutin Adeline ging eine Kette von fragwürdigen Entscheidungen voraus, die für Empörung sorgten. Der Angeklagte sass wegen zwei Vergewaltigungen eine Freiheitsstrafe von 20 Jahren ab und wurde im Zentrum «La Pâquerette» behandelt, einer auf Resozialisierung spezialisierten Abteilung der Genfer Strafanstalt Champ-Dollon.
Im Hinblick auf eine bedingte Haftentlassung wurde dem schweizerisch-französischen Doppelbürger für eine Reittherapie ein begleiteter Freigang gewährt. Im Reitzentrum kamen am 12. September 2013 aber weder der Häftling noch die 34-jährige Sozialtherapeutin an.
Adeline wurde am Folgetag an einen Baum gefesselt in einem Waldstück nahe des Reitzentrums aufgefunden, die Kehle war durchgeschnitten. Der mutmassliche Täter flüchtete mit dem beim Freigang benutzten Dienstwagen. Die Fahndung dauerte drei Tage.
Schliesslich wurde er an der deutsch-polnischen Grenze verhaftet. Dabei wurde auch die Tatwaffe sichergestellt. Es handelt sich um ein Messer, dass er sich während des Freigangs in einem Waffengeschäft kaufen durfte. Er hatte es für die Pflege von Pferdehufen beantragt. (nbb)