Professor Wunderli, wann hatten Sie Ihre letzte Grippe?
Werner Wunderli: Das muss vor 15 Jahren gewesen sein. Die war so schwer, dass ich mir gesagt habe: nie wieder! Alle Leute, die mich in den ersten Tagen gesehen hatten, wurden krank. Seitdem lasse ich mich immer impfen. Und das war «nur» eine ganz normale Grippe.
Womit wir beim Thema wären. Wie nennen Sie die neue Krankheit? Darüber wird ja gestritten.
Die Namensgebung bei Influenza-Erkrankungen geht so: Wenn der Erreger vom Menschen kommt, nennt man ihn Influenza Typ A oder Typ B. Wenn er von einem Tier kommt, dann gibt dieses dem Influenza-Typ seinen Namen. Diese hatte ihren Ursprung im Schwein.
Das neue Virus hat den Sprung zum Menschen geschafft. Wie gefährlich ist es?
Schwer zu sagen. Das Ursprungsland Mexiko ist ein Entwicklungsland. Viele Menschen dort sind arm und unterernährt. Die meisten haben keinen oder nur einen verspäteten Zugang zu medizinischer Betreuung. Wenn sich neben der Grippe gefährliche bakterielle Zweitinfekte wie etwa Lungenentzündungen entwickeln, steigt das Risiko für Komplikationen.
Die WHO hat den Pandemie-Alarm auf Stufe 5 angehoben, die vorletzte Warnstufe. Stehen wir an der Schwelle zu einer globalen Katastrophe?
Noch nicht. Es geht jetzt darum, alle Massnahmen zur Verhinderung einer Katastrophe einzuleiten. Solche Massnahmen bedeuten Einschränkungen für jeden Einzelnen und müssen daher sorgfältig überlegt und geplant werden.
Was wollen Sie damit sagen?
Eine Grippe-Pandemie muss nicht gleich eine medizinische Katastrophe mit vielen Toten bedeuten. Sie hätte vor allem auch volkswirtschaftliche Konsequenzen.
Um die ganz grosse Katastrophe zu vermeiden, schüren die Gesundheitsbehörden jetzt unsere Ängste?
Das ist tatsächlich nicht ganz falsch. Das Virus hat sich bereits zu weit verbreitet, um es noch in der Ursprungsregion isolieren zu können. Jetzt ist es ein Wettlauf mit der Zeit. Je stärker die Ausbreitung des Virus abgebremst wird, umso mehr Zeit haben wir, unsere Abwehr-Dispositive in Stellung zu bringen.
Wäre es angezeigt, alle Menschen mit Medikamenten wie Tamiflu zu schützen?
Im Gegenteil. Damit sollte man sehr vorsichtig sein. Tamiflu ist zurzeit die einzige Waffe, die wir haben. Meine grossen Bedenken sind, dass wir mit dem Flächeneinsatz von Tamiflu Viren selektionieren, die gegen das Medikament resistent sind.
Warum erfindet man nicht einfach ein neues?
Das dauert Jahre und bedeutet eine Rieseninvestition. Ohne die Entwicklungskosten hat Tamiflu in der Einführungsphase 500 Millionen Dollar gekostet.
Während der Spanischen Grippe von 1918/19 starben rund 40 Millionen Menschen. Ist ein Vergleich mit der Situation heute statthaft?
Ja und nein. Die medizinische Versorgung ist viel besser geworden. Andererseits gibt es neue negative Faktoren. Die Weltbevölkerung ist gewachsen. Die Lebensräume sind dichter besiedelt. Menschen und Waren zirkulieren immer schneller um den Globus – und damit auch die Viren. Das alles zusammen macht die Lage nicht weniger gefährlich als 1918.
Aus den Erfahrungen kann man aber Lehren ziehen?
Der Erfahrungswert von damals sagt, dass ungefähr 20 Prozent der Bevölkerung erkranken. Damit kann man berechnen, wie viele davon ins Spital müssen. Wie viele Todesfälle wird es etwa geben? Weil das Virus zwischen Mexiko und den Industrieländern weiter mutieren kann, müssen die Pandemie-Planer vorsichtigerweise in ihren Szenarien übertreiben. Mit dem Risiko, dass man die Leute frustriert.
Ist das nicht kontraproduktiv?
Sicher. Aber jetzt geht es um praktische Massnahmen. Und das ist die Aufgabe der Behörden. Bisher liefen die Fäden beim Bundesamt für Gesundheit zusammen. Seit der Pandemie-Alarm am Donnerstag auf Stufe 5 angehoben wurde, liegt die Leitung beim zuständigen Departement in Bern.
Das heisst, Bundesrat Pascal Couchepin steht am Ruder. Er hält nicht viel von Aktivismus in diesem Bereich.
Darum beauftragen sie jetzt eine Taskforce.
Was Sie davon halten, ist Ihrem Gesicht abzulesen.
Nun ja, aber die anstehenden Entscheidungen sind auch sehr schwierig. Nach welchen Kriterien werden etwa Medikamente oder Masken verteilt und an wen? Weil es diese Dinge ja nicht für alle gibt. Nicht jeder Bürger kann optimal versorgt werden. Das wäre für viele eine ganz neue Situation.
Das klingt nach heftigen Einschnitten.
Wir reden noch über die Vorbereitung von Massnahmen. Weil sich die Lage sehr schnell ändern kann, muss man sich jetzt schon sehr genau überlegen, was man wann in Kraft setzen will. Reiseeinschränkungen zum Beispiel oder ob es Sinn macht, Schulen zu schliessen. Wie garantiert man die Versorgung der Bevölkerung oder der Kranken in den Spitälern? Was machen die SBB, wenn zehn Prozent aller Lokführer im Bett sind? Oder die Post?
Was ist das schwächste Glied in der Schweizer Kette?
Wir haben ein kantonal aufgeteiltes Gesundheitswesen. Wichtige organisatorische Fragen in diesem Bereich müssten im Krisenfall wohl zentralistisch entschieden werden. Dann kann man nicht nach 26 verschiedenen Spielregeln operieren.