Weil sie sich wehrte, wurde ihre Rente gestrichen
IV brutal

Richter und Anwälte machen Strafanzeige gegen die IV-Stelle, da diese Betroffene angeblich unter Druck setzt.
Publiziert: 16.12.2012 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 04.10.2018 um 19:03 Uhr
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Matilde Gonzalez legte Beschwerde ein. Dafür wurde ihr die Rente gestrichen.
Foto: Stefan Bohrer
Von Roland Gamp und Leo Ferraro

Täglich durchzucken Matilde Gonzalez (55) höllische Schmerzen. Beim Einkaufen, beim Wohnungsputz, selbst wenn sie ihr Essen schneidet: «Es tut so weh, dass ich es fast nicht aushalte», sagt die zweifache Mutter aus Wohlen AG. Seit zehn Jahren leidet sie an Fibromyalgie, chronischen Muskel- und Gelenkschmerzen. Sie muss täglich Morphium nehmen.

Gonzalez bekommt eine 50-prozentige IV-Rente. Die soll jetzt gestrichen werden. Der Grund: Durch die IV-Revision 6a (siehe Box) wird allen Schmerzpatienten die Rente entzogen.

«Nach zehn Jahren IV soll ich nun plötzlich voll arbeitsfähig sein. Das verstehe ich nicht, habe ich die ganze Zeit etwa simuliert?», sagt Gonzalez. Sie legt Beschwerde gegen ihre Arbeitsfähigkeit ein.

Das passt der IV-Stelle Aargau gar nicht. In einem Schreiben macht sie Gonzalez klar: «Sie haben bis am 26. 10. 2012 Zeit, die Beschwerde zurückzuziehen. Sonst würden die Wiedereingliederungsmassnahmen abgewiesen» und «die Rente aufgehoben», heisst es im Schreiben, das SonntagsBlick vorliegt.

Die IV setze die Betroffenen unter Druck

«Die Betroffene wird von der IV unter Druck gesetzt, keine Beschwerde einzureichen. Das ist absolut unfair, weil ihre schwächere Position ausgenutzt wird», sagt Elisabeth Tribaldos (48). Die Rechtsanwältin hat am Freitag Anzeige wegen Nötigung gegen die IV-Stelle eingereicht. «Die Versicherungen schlagen Kunden wie Frau Gonzalez einen Kuhhandel vor: Wer seine angebliche Arbeitsfähigkeit akzeptiert, der wird noch zwei Jahre von der IV unterstützt. Danach muss er wieder arbeiten. Wenn er das nicht kann, wird er zum Sozialfall», sagt Tribaldos.

Wer sich aber wehrt, dem wird die Rente sofort gestrichen. «Gerade IV-Rentner trauen sich nicht, gegen den Entscheid vorzugehen. Sie sind schon knapp bei Kasse, können sich ein mehrjähriges Verfahren ohne Rente nicht leisten.»

Ist Matilde Gonzalez ein Einzelfall? «Nein, das Vorgehen hat in der Schweiz System», sagt Kurt Meier. Der Rechtsanwalt und ehemalige Ersatz-Kassationsrichter des Kantons Zürich hatte eine Mandantin, die ähnlich bedrängt wurde. «Bei den Abklärungen zeigte sich, dass es gängige Praxis ist, Betroffene unter Druck zu setzen.» Rechtsstaatlich sei das Vorgehen mehr als fragwürdig, «jeder sollte das Recht haben, sich zu wehren».

Auch bei der Rechtsberatungsstelle für Unfallopfer und Patienten haben sich Betroffene gemeldet. «Ich finde es unglaublich, dass auf diesem Weg versucht wird, dem Spardruck gerecht zu werden», sagt Vorstandsmitglied Jan Hartmann. Er findet es «höchst bedenklich, dass die IV eigene Interessen über die der Versicherten stellt».

Vor allem Rentner trauen sich nicht zu wehren

Die betroffene IV-Stelle Aargau spricht von einem Einzelfall: «Die Worte waren ungünstig gewählt. Um eine Nötigung handelt es sich aber nicht», sagt Bereichsleiter Alessandro Tani.

Dass Rente und Wiedereingliederung bei einer Beschwerde entfallen, sei normal, bestätigt Rolf Camenzind vom Bundesamt für Sozialversicherungen: «Viele Betroffene wollen den Fünfer und das Weggli: Sie zeigen keinen Willen an der Wiedereingliederung, wollen aber gleichzeitig die Rente kassieren – das ist unfair der IV gegenüber.»

Unfair? Matilde Gonzalez ist enttäuscht: «Ich würde ja gerne mehr arbeiten. Aber ich kann einfach nicht.» Es werde hart, die Verfahrenszeit ohne Rente durchzustehen. «Aber ich muss weiterkämpfen.»

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Was bedeutet die IV-Revision 6a?

Die Schweizer Invalidenversicherung (IV) erwartet Ende Jahr ein Minus von 15 Milliarden Franken. Um dereinst wieder schwarze Zahlen zu schreiben, soll sich die Versicherung mit der 6. IV-Revision schlanksparen. Das erste Massnahmenpaket «a» ist seit dem 1. Januar 2012 in Kraft. Es schreibt vor, dass die Arbeitsfähigkeit von 17 000 IV-Bezügern abgeklärt wird. Unter ihnen sind 6000 Schmerzpatienten, die das Schicksal von Matilde Gonzalez teilen: Die Ursache ihrer Krankheit ist medizinisch nicht überprüfbar. Möglichst viele Betroffene sollen in zwei Jahren fit für die Berufswelt sein, die IV-Rente entfällt. Der Bund erhofft sich dadurch jährliche Einsparungen von 750 Millionen Franken. 

Die Schweizer Invalidenversicherung (IV) erwartet Ende Jahr ein Minus von 15 Milliarden Franken. Um dereinst wieder schwarze Zahlen zu schreiben, soll sich die Versicherung mit der 6. IV-Revision schlanksparen. Das erste Massnahmenpaket «a» ist seit dem 1. Januar 2012 in Kraft. Es schreibt vor, dass die Arbeitsfähigkeit von 17 000 IV-Bezügern abgeklärt wird. Unter ihnen sind 6000 Schmerzpatienten, die das Schicksal von Matilde Gonzalez teilen: Die Ursache ihrer Krankheit ist medizinisch nicht überprüfbar. Möglichst viele Betroffene sollen in zwei Jahren fit für die Berufswelt sein, die IV-Rente entfällt. Der Bund erhofft sich dadurch jährliche Einsparungen von 750 Millionen Franken. 

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