Weihnachtsfragen vom Blick-Redaktor an seinen Pfarrersbruder
«Für Kirchenbesuche gibts keine Fleissabzeichen»

Ist es schlimm, wenn ich nur an Weihnachten in der Kirche erscheine? Und warum suchen Menschen gerade in der Spiritualität ihre Antworten? Darüber hat Blick-Redaktor Andrea Cattani mit seinem Pfarrersbruder gesprochen.
Publiziert: 24.12.2021 um 02:04 Uhr
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Aktualisiert: 24.12.2021 um 07:24 Uhr
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Blick-Redaktor Andrea Cattani hat seinen Bruder und Pfarrer Francesco zum Gespräch getroffen.
Foto: Daniel Kellenberger
Andrea Cattani

Das Foto ist schon fast 30 Jahre alt. Die Farben sind schon ziemlich verblasst, genau wie meine Erinnerungen daran. Weihnachten 1990, und meine Familie posiert verkleidet als Hirten, Esel und Schafe. Mein älterer Bruder Francesco ist einer der Heiligen Drei Könige, und ich gebe mittendrin das halb nackte Jesuskind.

Man ist versucht zu sagen, es hatte sich schon hier abgezeichnet, dass da einer mal als Pfarrer enden würde. Nur: Es ist mein Bruder, der heute Woche für Woche zu seiner Gemeinde predigt und nach dem Rechten schaut, während ich seit Jahren als Journalist beim Blick arbeite. Unsere Wege könnten unterschiedlicher kaum sein. Und doch führt uns in unserer Familie das Weihnachtsfest traditionell immer wieder ganz nah zueinander.

Weihnachten 1990: Vom Schaf bis zum Jesuskind war alles dabei.
Foto: zVg

Andrea: Hast du alle deine Geschenke für Weihnachten? Ich stelle mir vor, dass die Adventszeit für einen Pfarrer besonders stressig sein muss. Da bleibt doch keine Zeit für so was?
Francesco: Stressig ist das falsche Wort. Aber es ist auf jeden Fall eine fordernde Zeit, während in der Kirche natürlich besonders viele Anlässe stattfinden. Kleine Feiern, Andachten, Gottesdienste. Die Geschenke habe ich trotzdem alle schon seit etwa zwei Wochen fixfertig und bereit. Weihnachten kann kommen.

Die Anlässe sind ein gutes Stichwort: Du führst in diesem Jahr den Familiengottesdienst in deiner Gemeinde durch. Die traditionelle Weihnachtsbotschaft, O du fröhliche, das volle Programm. Die Kirche wird für einmal wieder gut gefüllt sein. Das ist doch heuchlerisch.
Heuchlerisch wäre, wenn die Leute unter dem Jahr ständig in den Gottesdienst kommen würden, obwohl sie das gar nicht wollen. Für Kirchenbesuche gibts keine Fleissabzeichen, und es wird auch niemand böse angeschaut, wenn er sich nur ein Mal im Jahr blicken lässt. Dass an Weihnachten besonders viele Menschen in die Kirchen strömen, empfinde ich als ein Kompliment. Das Fest ist vielen unbestritten noch heute sehr wichtig. Und es ist ein schönes Zeichen, dass Familien der Kirche und mir als Pfarrer das Vertrauen schenken, dass wir ihnen die weihnachtliche Botschaft gut und schön vermitteln.

Seit 2016 arbeitet mein Bruder als reformierter Pfarrer im Zürcher Quartier Albisrieden. Mit knapp 10'000 Mitgliedern ist der Kirchenkreis neun einer der grössten der Stadt. Unsere ersten Praxiserfahrungen in unseren heutigen Jobs machten wir fast zeitgleich: ich als völliger Neuling beim Blick, er als Vikar in einer kleinen Gemeinde am Zürichsee. Während der eine versuchen musste, sich im schnellen, manchmal rauen Alltag des Newsrooms zurechtzufinden, führte der andere erste seelsorgerische Gespräche und begleitete emotionale Abdankungen.

Du bist jede Woche mehrmals in Alters- und Pflegeheimen zu Besuch oder führst lange Gespräche mit den Senioren der Gemeinde. Trotz oder gerade wegen Corona. Wie gehen diese Menschen mit der derzeitigen Situation um?
Im empfinde die Seniorinnen und Senioren in unserer Gemeinde als sehr pragmatisch. Niemand findet die Schutzmassnahmen schön, aber praktisch alle befürworten sie. Manche mussten die Festtage vor einem Jahr komplett in Isolation verbringen. Das will man jetzt natürlich um jeden Preis verhindern. Was ich aber spüre, ist ein gewisser Frust gegenüber all jenen, die sich den Regeln widersetzen oder sich nicht impfen lassen wollen. Die Toleranz scheint da aufgebraucht zu sein.

Und gleichzeitig arbeitest du im Konfirmationsunterricht auch mit vielen Jugendlichen im Teenageralter zusammen. Die sehen das womöglich etwas anders.
Die jungen Menschen sind sicher unbeschwerter im Umgang mit Corona. Sie haben nicht wirklich Angst vor der Krankheit. Aber sie wollen auch nicht schuld sein, dass sich jemand aus ihrem Umfeld ansteckt. Darum sind auch sie durchaus vorsichtig.

Zwei Brüder, zwei Rollen

Francesco (38) und Andrea (34) Cattani sind in Gattikon ZH geboren und aufgewachsen. Francesco hat an der Uni Zürich Theologie studiert; sein Bruder Andrea hat – ebenfalls in Zürich – sein Studium in Geschichte und Erziehungswissenschaften abgeschlossen.

Seit 2016 arbeitet Francesco als reformierter Pfarrer im Zürcher Quartier Albisrieden. Davor hat er in Oberrieden ZH ein Vikariat absolviert. Er lebt mit Frau und Hunden in Zürich.

Andrea ist bei der «Zürcher Studierendenzeitung» in den Journalismus eingestiegen. Danach folgte ein Praktikum beim Blick, wo er seither als News- und Sportredaktor arbeitet. Er lebt mit Frau und Kindern in Gattikon.

Kellenberger Kaminski

Francesco (38) und Andrea (34) Cattani sind in Gattikon ZH geboren und aufgewachsen. Francesco hat an der Uni Zürich Theologie studiert; sein Bruder Andrea hat – ebenfalls in Zürich – sein Studium in Geschichte und Erziehungswissenschaften abgeschlossen.

Seit 2016 arbeitet Francesco als reformierter Pfarrer im Zürcher Quartier Albisrieden. Davor hat er in Oberrieden ZH ein Vikariat absolviert. Er lebt mit Frau und Hunden in Zürich.

Andrea ist bei der «Zürcher Studierendenzeitung» in den Journalismus eingestiegen. Danach folgte ein Praktikum beim Blick, wo er seither als News- und Sportredaktor arbeitet. Er lebt mit Frau und Kindern in Gattikon.

Für mein Geschichtsstudium hatte ich mich an der Uni mühevoll durchs Latein geprügelt. Mein Bruder musste zusätzlich noch Altgriechisch und Hebräisch büffeln. Das beeindruckt mich bis heute. Ich war überzeugt, dass er das Amt als Pfarrer dafür stets vor Augen gehabt haben muss. Aber: «Ich war mir lange überhaupt nicht sicher, dass ich diesen Beruf mal ausüben würde», sagt Francesco. Die Überzeugung in die Arbeit und auch in den Glauben seien in ihm über die Jahre gewachsen.

Das ist nun schon das zweite Weihnachten, das ganz im Zeichen von Corona stattfinden muss. Bleibt den Leuten bei all diesen Problemen überhaupt Platz für den Glauben?
Ich habe schon den Eindruck, dass die Menschen nach wie vor auf spiritueller Ebene Antworten suchen.

In Zeiten, in denen Wissenschaftler praktisch jeden Tag um Expertenrat gebeten werden, boomt die Spiritualität wieder?
Das muss kein Widerspruch sein. Nur damit wir uns richtig verstehen: Ich höre genauso auf diese Experten wie alle anderen auch. Aber es gibt Fragen, auf die gibt die Wissenschaft keine Antworten. Die Biologie kann uns zwar zweifelsfrei aufzeigen, wie menschliches Leben entsteht und gedeiht. Aber was jeder Einzelne mit sich selbst und seinem Leben anfangen soll, steht in keinem Lehrbuch. Die Zeit im Lockdown und im Homeoffice hat viele dazu gebracht, wieder mehr auf sich selbst zu hören und in sich zu kehren. Was ist mir wichtig und worauf kann ich gut verzichten? Der entschleunigte Alltag wird von einigen als Bereicherung angesehen. Und hier hat die Kirche sehr viel zu bieten.

Und wo ist hier der christliche Glaube? Viele sind zwar gegenüber der Spiritualität offen, gehen dann aber lieber zum Yoga, weil sie mit den altertümlichen Erzählungen aus der Bibel nichts anfangen und das nicht glauben können.
Die Bibel soll ernst genommen werden, aber nicht wörtlich. Wir verwechseln «Glauben» immer öfter mit «Wissen». Das, woran wir glauben, steht dann plötzlich im Widerspruch zur wissenschaftlichen Erkenntnis. Jedoch hat der Glaubensbegriff viel mehr mit Vertrauen als Für-wahr-Halten zu tun. Es muss keine historische Tatsache sein, dass Josef und Maria in besagter Nacht tatsächlich zwischen ein paar Tieren in einem Stall Unterschlupf gefunden und dort den Sohn von Gott empfangen hatten. Die Geschichte will mir doch auf einer anderen Ebene eine Botschaft mitgeben, die mein Vertrauen in Gott stärkt: Gott ist nicht weit weg, sondern mitten in dieser Welt. Gott will den Menschen nahe sein.

Die kleine Kirche im alten Kern von Albisrieden ist auch unmittelbar vor Weihnachten nur nüchtern dekoriert. Der Kirchenraum wird in diesen Tagen kaum genutzt, weil die BAG-Massnahmen nur schwierig eingehalten werden können. Mein Bruder tritt trotzdem sofort an den Taufstein der Kirche und nimmt die schwere Bibel in seine Hände. Er blättert einige Male, dann legt er das Buch wieder offen neben die Kerzen. «Lukas 2, die klassische der beiden Weihnachtsgeschichten hier drin», sagt er mit einem zufriedenen Lächeln. Und ich wusste bis dahin nicht mal, dass es in der Heiligen Schrift zwei unterschiedliche Erzählungen über Heiligabend und die Geburt Jesu gibt.

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