Walter Tschanz (54) schwebt dem Himmel entgegen. Umgeben vom Glas der Gondel, die an Stahltrossen zum Gipfel hochgleitet. Unter ihm breitet sich das Skigebiet aus. Es ist Anfang Dezember. Schneekanonen sprühen Kunstschnee auf die Hänge. Raupenfahrzeuge verstossen die weissen Massen zu Pisten. Irgendwo schleppt ein Helikopter eine Kanone durch die Luft. So kurz vor der Saison ist der Berg eine Baustelle. Und Tschanz ist der, der alles dirigiert.
Walter Tschanz, den alle «Wadi» nennen, ist Leiter Pisten und Rettungsdienst. Und Chef über den Kunstschnee im Aroser Teil des Skigebiets Arosa-Lenzerheide – das grösste Graubündens. Mit 225 Kilometern Piste und über 1,4 Millionen Skifahrer-Ersteintritten im vergangenen Winter. Obwohl: Das Wort Kunstschnee hört er nicht gerne. Besser: Technischer Schnee. «Wir sind keine Künstler, wir sind Techniker», sagt er in das monotone Summen der Seilbahn hinein und stoppt, als das Handy schrillt. Ein Notruf aus dem Feld. Ein Skifahrer ist gestürzt. Tschanz regelt das, funkt einen Heli-Piloten an: «Ruedi, bist du in der Luft? Kannst du zum Plattenhorn? Ein Knie.»
Ein Dorf lebt mit dem Wintertourismus
Tschanz arbeitet seit 30 Jahren am Berg, mehr als sein halbes Leben. Aufgewachsen ist er im Berner Oberland, plante eigentlich nur eine Saison am Skilift hier, wo er beim Anbügeln half – und blieb. Auch wegen der Liebe. Seine Frau ist Aroserin. Tschanz sagt: «Sie hat Verständnis für meine Arbeit.» Sie kenne den Wintertourismus. Das ganze Dorf kennt ihn. Man lebt von ihm. Und mit ihm. Er taktet den Alltag der Menschen. Hochtourig. Tschanz steigt morgens um 6 Uhr in seine schweren Wanderschuhe und zieht sie selten vor 18.30 Uhr aus.
Manchmal wünscht er sich, die Gäste könnten sehen, was er in diesen Wochen am Berg vor Augen hat. Er sagt: «Es steckt viel Arbeit in diesem Skigebiet.» Vierzig Männer hat er unter sich. Seit Mitte November sind sie dran. Einen Monat zu spät. Schuld sind die hohen Temperaturen. Arosa-Lenzerheide musste deshalb den Saisonstart verschieben. Die Männer büezen nun Tag und Nacht in 12-Stunden-Schichten, bei jedem Wetter, ausser Frau Holle schickt mal eine Ladung vom Himmel. Sie müssen. Sie müssen Schnee machen. An Weihnachten muss alles fertig sein. Dann will die Schweiz Ski fahren. Davon lebt die Gegend.
Tschanz nimmt die Journalistin einen Tag lang mit. Er weiss: Beschneiung ist ein Reizthema. Kunstschnee besteht aus Wasser, Strom und Luft. Verbraucht Ressourcen. Und der Klimawandel und die Sorge darum giessen Öl in die lodernde Debatte. Der Chefbeschneier will zeigen, was technische Beschneiung ist. Und was sie bedeutet. Tschanz sagt: «Ohne sie hätten wir ein grosses Problem.»
Skifahrer-Nation ist passé
Früher war das undenkbar. Früher war Skifahren Teil der nationalen Selbstverständlichkeit. Das Wort «schneesicher» existierte nicht, Schnee war Massenware. Und ein Kulturgut. 1963 schuf der Schweizer Schlagerstar Vico Torriani (1929–1998) eine inoffizielle Nationalhymne: «Alles fahrt Ski, alles fahrt Ski. Ski fahrt die ganzi Nation.» Ein Jahrzehnt später führte das Cabaret Rotstift vor, wie sich der deutsche Tourist am Lift den Aufstieg vorstellt: «Bei uns geht alles ruckzuck, zackzack! Verstehnse!» Und Ines Torelli (1931–2019) schwärmte in den höchsten Tönen von ihren Skiferien: «Scho churz noch äm Sturz grift mr min Ski-Schuel-Lehrer unter d Ärm. Und chum berüert er mich, scho juchz ich innerlich: Das isch dä Gigi vo Arosa.»
Die Gigis haben an Glanz verloren. Im Schatten der grossen Skigebiete wachsen Konkurrenten wie Langlaufen, Schneeschuhlaufen, Schneewandern heran. Ein Bericht von Schweiz Tourismus aus dem Jahr 2018 zeigt: Die Zahl der Tage, an denen Schweizerinnen und Schweizer auf den Ski standen, ist innert zehn Jahre um ein Viertel gesunken. Das schlägt sich in der Statistik der Seilbahnen Schweiz nieder: 2004/05 verkauften die Bahnen 28 Millionen Eintritte, zehn Jahre später rund 23 Millionen und während Corona um die 20 Millionen.
Die Skigebiete kämpfen. Um Gäste. Und um Schnee. Dafür sind allein im Aroser Teil des Skigebiets Arosa-Lenzerheide stationiert: 109 Schneekanonen und 175 Schneelanzen, die wie langstielige Duschköpfe die Piste von oben herab besprühen. Dabei gehört das Bündner Skigebiet zu den glücklichen. Walter Tschanz sagt: «Wir leben von der Höhe.»
Bergstation Hörnli, 2499 Meter über Meer. Tschanz quetscht seinen langen Körper auf einen Bürostuhl, startet den Computer auf. «Gutes Schneien, Wadi», steht auf dem Bildschirm. Das Beschneiungsprogramm hat es in sich: Jeder Hügel, jede Piste erscheint auf dem Schirm, mit unzähligen Daten. Zur Dicke der Schneeschicht, die darauf liegt. Zum Status jedes Beschneiungsgeräts im Feld: ob es am Arbeiten ist, ob es stillsteht, wie viel Energie es verbraucht. Tschanz klickt auf eine Kanone, schon fächert sie sich auf, meldet ihren Einsatzstatus und wie viel Wasser sie in der Sekunde verschneit: drei Liter. «Ein guter Wert», sagt der Chefbeschneier. Bei den alten Geräten sei es weniger, das Beschneien dauere deshalb länger. Tschanz sagt: «Wir werden immer effizienter.» Das schone die Ressourcen, sei gut für die Umwelt.
Das Wetter ist unberechenbar
Tschanz sagt das bewusst. Jede zweite Piste in der Schweiz besteht aus Kunstschnee. Vor zwanzig Jahren war es jede zehnte. In Arosa sind es 65 Prozent. Schon im Herbst fangen die Beschneier damit an. Weshalb, ist im Alpenland Schweiz für Laien schwer nachvollziehbar. Tschanz will es erklären, packt seine Ski, fährt Richtung Tal. Links die Flanke des Weisshorns, Fels schimmert durch, früher war es weiss. Tschanz sagt, das Wetter sei unberechenbarer geworden. Es schneie später im Jahr als früher. «Wir können uns nicht mehr auf den Naturschnee verlassen.»
Tschanz kennt die Anfänge der Beschneiung gut, ist mit ihr mitgewachsen. Als er nach Arosa kam, spürten die Skigebiete, dass sich das Klima ändert. Anfang der Neunziger gab es mehrere schlechte Winter hintereinander, warm war es, kaum Schnee hatte es. Das war neu. Mit Helikoptern holten sie in höher gelegenen Gebieten Schnee aus den Mulden und bauten damit ihre Pisten. Später entschieden Marketingmenschen, die Domain von Arosa in «Schneesicher.ch» zu ändern. Ein Statement. Arosa fing mit drei Schneekanonen an. Kaum mehr als primitive Propeller, die Wassertröpfchen in die Winterluft bliesen, wo sie zu Schneeflocken erstarrten. Das Wasser dafür nahmen sie von Feuerwehrhydranten. «Es war ein Gebastel», sagt Tschanz. Ganz anders heute. Nun fliesst das Wasser aus einem für die Beschneiung gebauten Speichersee über Kühltürme und Rohrleitungen zu Pumpstationen, die es weiter zu den Beschneiungsgeräten leiten. Eine Maschinerie.
Diese kostet. Jeder fünfte Franken vom Billettverkauf fliesst in Tschanz' Ressort. Er sagt, warum: «Das Beschneien gibt uns Planungssicherheit.»
Schneekanonen mögen es kalt
Geblieben ist: die Wetterabhängigkeit. Die Temperaturen müssen stimmen. Konkreter: die Feuchtkugeltemperatur. Diese Messgrösse ist der Puls der Pisten. Sie verbindet Feuchtigkeit und Temperatur der Luft zu einem Wert; sie gibt an, ob Schneekanonen und Schneelanzen Schnee spucken können. Sie brauchen es kalt und trocken.
Es ist Mittag, die Feuchtkugeltemperatur liegt bei -2,3 Grad – leicht zu hoch, bald stellen die Schneigeräte ab. Und die Beschneier sind dran. Sie bauen mit ihren Raupenfahrzeugen die perfekte Piste. Perfekt heisst kompakt. Naturschnee besteht aus Schneekristallen, ist deshalb weich und locker. Kunstschnee dagegen hat eine kugelrunde Form, ist dichter und schmilzt daher langsamer. Er hält höheren Temperaturen stand. Hält bis zum Ende der Saison im April durch.
Bubentraum: Beschneier
Das weiss Patrick, Übernahme «Örni» (33), Pistenfahrzeugfahrer, schwarze Sonnenbrille, fusselige Mütze und ausgebleichter roter Hoodie. Von der Sonne. Auch heute dringen ihre warmen Strahlen wieder ins Kabineninnere. Seit 16 Jahren ist «Örni» Fahrer. Er gehört zu den Ältesten im Team. «Unser Job ist ein Bubentraum», sagt er. 30 Blindbewerbungen von Jungs aus der ganzen Schweiz gehen jeden Winter bei Tschanz ein.
«Örni» baut unterhalb der Bergstation mit dem Pflug gerade eine Verbindung zwischen zwei Pisten. Weiss zu jedem Zeitpunkt, wie viele Zentimeter Schnee er unter der Raupe hat, weiss, ob er noch etwas nehmen oder aufschütten muss. Er kann den Schneeaufbau exakt kontrollieren. Tut das viele Stunden lang. Eine einsame Zeit. Das muss man aushalten können. «Örni» hält es gut aus. Viel zu erklären gibt es für ihn nicht: «Schon als Bub mochte ich grosse Maschinen wie diese und mag sie immer noch.»
Lohnt sich der ganze Aufwand?
«Örni» lächelt. Eine Frage, die nur Fremde stellen. «Wenn kein Schnee liegt, will keiner Ski fahren.»
Und was sagt sein Chef Walter Tschanz?
«Wir tun das für unsere Gäste.»