Viele Schweizer sind nicht zufrieden mit der Rechtsprechung in ihrem Land. Täter würden mit Samthandschuhen angefasst, von «Kuscheljustiz» ist immer wieder die Rede. Doch wäre das Volk tatsächlich härter, wenn es Diebe, Raser, Vergewaltiger und Betrüger selbst bestrafen könnte? André Kuhn, Kriminologe an der Universität Neuenburg, hat genau das untersucht – und ist zu einem erstaunlichen Ergebnis gekommen.
Wie die «Aargauer Zeitung» heute berichtet, hat der Kriminologe zufällig ausgewählte Personen ohne juristische Erfahrung sowie Richter die gleichen vier fiktiven Fälle beurteilen lassen: Ein Raser, der mit 232 km/h anstatt 120 km/h auf der Autobahn unterwegs war. Ein Räuber, der schon vorher straffällig wurde und wieder zuschlug. Ein Mann, der eine Frau vergewaltigte und ein Bankier, der mehr als eine Million Franken veruntreute.
Ein Herz für Betrüger
Wie zu erwarten war, unterschieden sich die Urteile zwischen den Richtern und dem Volk. Ein Teil der Befragten hielt sich nicht an den vorgesehenen Strafenkatalog und forderte, dem Raser das Auto wegzunehmen, den Betrüger aus dem Haus zu werfen und den Vergewaltiger zu kastrieren.
Etwas macht die Untersuchung deutlich: Grundsätzlich müssten Raser, Dieb und Vergewaltiger mit höheren Strafen rechnen, wenn das Volk entscheiden könnte. Hingegen dürften Betrüger mit einer fünf Monate kürzeren Haftstrafe davonkommen.
Mildes Volk
Im Durchschnitt sind die von den Bürgerinnen und Bürgern geforderten Strafen also härter. Das Ergebnis muss jedoch mit Vorbehalt beurteilt werden, denn Personen, die überdurchschnittlich harte Strafen fordern, verzerren die Statistik. Also hat Kuhn diese Personen herausgefiltert – und siehe da: Das Volk würde milder bestrafen als die Richter. Einzige Ausnahme hierbei ist der Fall des Vergewaltigers. Er wird von den Laien nach wie vor härter bestraft als von der Justiz, wie die «Aargauer Zeitung» schreibt.
Das war jedoch nicht immer so. Bei einer ersten Befragung im Jahr 2000 forderte das Volk noch fünf Jahre Gefängnis für den Vergewaltiger. Das ist weniger, als die Richter verlangten. Sieben Jahre später hat sich die Meinung der breiten Masse verändert. Sechzig Prozent sind strenger als die Richter. (boo)