Auf manche Dinge sind wir Schweizerinnen und Schweizer richtig stolz. Zum Beispiel auf unser Gesundheitssystem: Wird jemand krank, springt die Krankenkasse ein. Denn jeder ist versichert. So will es das Gesetz. Und so gebietet es die Solidarität.
Die Geschichte von Jeannine Frey will nicht so recht in dieses Bild passen. Die 28-Jährige begrüsst den SonntagsBlick-Reporter in ihrer schmucken Wohnung in Oensingen SO. Ihr Händedruck ist auffallend sanft. Auf den zweiten Blick fällt auf, dass die Arbeitsfläche in ihrer Küche ungewöhnlich niedrig liegt. Hier könnte sie im Rollstuhl kochen. Und einen Rollstuhl braucht Jeannine Frey vielleicht eines Tages: Denn sie leidet an Morbus Pompe, einer seltenen Muskelkrankheit.
Bis vor elf Jahren verlief ihr Leben beinahe völlig normal; sie brachte gute Noten nach Hause, absolvierte eine kaufmännische Ausbildung. Nur in einem Fach sei sie halt immer «mega schlecht» gewesen, sagt sie, im Turnen: «Ich hatte einfach keine Kraft, keine Energie.» Jeannine fiel häufiger hin, hatte Mühe beim Treppensteigen, irgendwann hatte sie sogar Mühe, den Kopf zu heben.
Nach einem Unfall – Jeannine war beim Aussteigen aus einem Bus gefallen – erkannte ein Spezialist, was los ist: «Er erklärte mir, dass ich an einer Muskelkrankheit leide.» Die definitive Diagnose kam sieben Jahre später, Anfang 2007.
Nachts Beatmungsgerät
In der Schweiz sind es rund 20 Frauen und Männer, die an dieser extrem seltenen Stoffwechselkrankheit leiden. Ihnen fehlt ein Enzym, das Glykogen abbaut. Glykogen ist eine Zuckerform, die unsere Muskeln speichern – als Energiereserve.
Bei Pompe-Patienten sammelt sich das Glykogen übermässig in den Muskelzellen an und schädigt sie dadurch nachhaltig. Die Patienten werden immer schwächer, auch das Atmen fällt ihnen irgendwann schwer.
Sie sind auf den Rollstuhl angewiesen, werden bettlägerig; viele von ihnen sterben jung.
Bei Jeannine Frey ist die Krankheit ziemlich weit fortgeschritten. Beim Atmen bewegt sie bewusst ihren Brustkorb auf und ab – «so bekomme ich genug Luft», sagt sie. Nachts braucht sie ein Beatmungsgerät – sonst bekäme sie gefährlich wenig Sauerstoff.
Das künstliche Enzym
Noch ist sie völlig selbständig: Draussen benutzt sie einen Rollator oder Scooter, längere Strecken legt sie mit dem Auto zurück. Arbeiten kann sie halbtags, «der Job bei der Hilfsmittelberatung in Oensingen gefällt mir sehr», sagt sie.
Dass es ihr trotz allem gutgeht, hat Jeannine Frey einem Stoff namens Myozyme zu verdanken. So heisst das künstliche Enzym, das ihr zweiwöchentlich verabreicht wird. Sieben Stunden dauert die Infusion; nach den ersten Behandlungen im Sommer 2007 stabilisierte sich die Krankheit sofort.
Das könnte eine gute Nachricht sein. Wenn sich dahinter nicht eine schlechte Nachricht verbärge. Myozyme ist teuer, sehr teuer sogar. Wie viel ein Patient braucht, hängt vom Gewicht ab. Für eine 50 Kilogramm schwere Person kostet die Therapie rund 300000 Franken – pro Jahr.
Myozyme ist vom Schweizer Heilmittelinstitut Swissmedic zugelassen. Es steht aber nicht auf der Spezialitätenliste des Bundesamtes für Gesundheit (BAG). Sie umfasst alle Medikamente, die von den Krankenkassen bezahlt werden müssen.
Bis vor kurzem vergüteten die Kassen Myozyme trotzdem – dank des Einflusses der Vertrauensärzte.
Zu geringer therapeutischer Nutzen
Doch im November entschied das Bundesgericht, dass die Kassen Behandlungen mit Myozyme nicht mehr übernehmen müssen. Begründung: Der therapeutische Nutzen des Medikaments sei zu gering.
Für Jeannine Freys Arzt, den Neurologen Kai Rösler, ist das Urteil der Bundesrichter unverständlich: «Wir konnten die Krankheit stoppen, Jeannine kann arbeiten und ist selbständig. Da ist für mich der therapeutische Nutzen sehr wohl gegeben», sagt er.
Das Urteil sei «diskriminierend» und verstos-se gegen die Menschenrechte, sagt Esther Neiditsch, Präsidentin von Pro Raris, der Vereinigung, welche die Interessen von Menschen mit seltenen Krankheiten vertritt. Sie sässen in einem Teufelskreis: Weil es so wenige Fälle gebe, sei der therapeutische Nutzen wissenschaftlich schwieriger nachzuweisen. Und daher können sich Versicherer leichter weigern, die Medikamente zu bezahlen.
Unhaltbares Urteil
Zu einem ähnlichen Schluss kommt ein bisher unveröffentlichtes Rechtsgutachten des Branchenverbandes Interpharma. Tenor: Das Bundesgerichtsurteil ist unhaltbar. Es kollidiert mit der Menschenwürde und dem Recht des Individuums auf Existenzsicherung.
Bewegung gibt es jetzt auch in Bern: Offensichtlich aufgeschreckt durch das Urteil der obersten Richter kündigte der Bundesrat an, eine nationale Strategie für seltene Krankheiten aufzugleisen.
Zurzeit darf Jeannine Frey das Medikament noch erhalten; Genzyme, der Hersteller von Myozyme, hat sie in ein Charity-Programm aufgenommen – weil sie von ihrer Krankheit besonders schwer betroffen sei. Im vergangenen Jahr beantragte Genzyme beim Bundesamt für Gesundheit zudem, Myozyme auf die Spezialiätenliste zu setzen, die Liste der kassenpflichtigen Medikamente. Ein Entscheid steht noch aus, Fragen dazu will das BAG nicht beantworten.
Jeannine Frey hofft, dass jetzt noch korrigiert wird, was eigentlich nicht sein darf: «Dass Patienten wie ich sterben müssen, weil wir den Krankenkassen zu teuer sind.»