Tessiner Fotoreporter war drei Tage auf einer Corona-Intensivstation
«Die Brustkörbe hoben sich im Takt der Maschinen»

Im Corona-Referenzspital «La Carità» in Locarno TI landen die meisten der Infizierten. Pablo Gianinazzi (36) von Ti-Press durfte die Ärzte und Pfleger über Tage bei ihrem schweren Job begleiten.
Publiziert: 04.05.2020 um 21:17 Uhr
|
Aktualisiert: 05.05.2020 um 09:13 Uhr
«Die Brustkörbe hoben sich im Takt der Maschinen»
3:02
Tessiner Fotograf berichtet:«Die Brustkörbe hoben sich im Takt der Maschinen»
Myrte Müller

Der Tessiner Fotograf hat den Flüchtlingsstrom in Serbien fotografiert, ein im Bombenhagel schwer verletztes Kind porträtiert. Er hat Migranten bei ihrem Fluchtversuch über die französischen Alpen in die Schweiz mit der Kamera begleitet. Für seine Geschichten erhielt Pablo Gianinazzi (36) verschiedene Preise. Doch die Reportage, die ihm am meisten an die Nieren geht, kommt aus dem Corona-Spital La Carità in Locarno TI.

Drei Tage lang (von Ende März bis Anfang April) darf der Fotoreporter den Ärzten über die Schulter schauen. Es ist jene, so gefürchtete Realität des Virus, zu der die Allgemeinheit keinen Zugang hat. Nicht einmal die Angehörigen der Patienten.

1/22
Alarm auf der Intensivstation: Ein Patient kann nicht mehr atmen. Ärzte und Krankenschwestern eilen herbei, um den intubierten Mann zu retten.
Foto: Keystone

Die Dramen beginnen schon in jenen Tagen im Triage-Zelt vor dem Eingang. «Am frühen Morgen kamen schon die Ambulanzen, brachten Patienten, auch aus anderen Spitälern.» Eine Nonne, eine Krankenschwester, ein älterer Herr, eine Mutter. Alle hatten Corona-Symptome. «So manchem Patienten stand die Panik im Gesicht geschrieben», so Gianinazzi.

Fotografieren in voller Schutzmontur

Die Corona-Odyssee läuft durch mehrere Etagen. Im zweiten Stock ist die Allgemeine Abteilung für die Genesenden, im ersten sind die Intensivstationen, im Parterre ist die Notaufnahme und im Keller sind die Leichen. Pablo Gianinazzi darf sich recht frei bewegen. Seine Corona-Montur: Schutzanzug, Haube, Schutzbrille, Atemschutzmaske, Handschuhe. «Ich sah aus wie ein Chirurg. In jedem Raum musste ich meine Hände neu desinfizieren.»

Besonders hart ist die Intensivstation. «Drei Dutzend Patienten lagen dort im künstlichen Koma», erinnert sich Gianinazzi. «Sie waren intubiert, nackt, nur mit einem Tuch um die Lenden bedeckt. Bei manchen führte der Schlauch in den Mund, bei anderen durch die geöffnete Kehle», erzählt der Tessiner. «Mir fiel sofort das Geräusch der Respiratoren auf. Die menschlichen Brustkörbe hoben und senkten sich im Rhythmus der Maschinen. Das hat mich ziemlich erschüttert.»

Die meisten Intensiv-Patienten hatten Übergewicht

Immer wieder hätten fünf bis sechs Pfleger die Patienten auf den Bauch und dann wieder auf den Rücken gewendet, um die Atmung zu erleichtern. Die Menschen seien zwischen 50 und über 80 gewesen. Pablo Gianinazzi fällt auch auf: «Die meisten waren übergewichtig.»

Der Fotograf ist dabei, als ein Patient intubiert wird. «Drei Tage später war sein Bett neu besetzt. Ich fragte, wo der Mann sei. Sie antworteten mir, im unteren Stockwerk», erzählt Pablo Gianinazzi weiter. «Das hiess: Er war tot.»

Ein älterer Herr wird vor den Augen des Fotografen aus dem Koma geholt. «Er hat den Schlauch in der Kehle, konnte nicht sprechen. Man gab ihm Stift und Block. Er wollte seine Ehefrau sehen», erzählt Pablo Gianinazzi. «Das ginge nicht, sagte man ihm. Da ging es ihm schlechter und er wurde wieder betäubt. Die Ehefrau lag nebenan, war auch intubiert. Das hat man dem Mann verschwiegen.»

«Das Corona-Opfer ist einer von uns»

Nicht nur der Kampf der Patienten beeindruckt den Reporter. Es ist auch die Arbeit der Ärzte und Pfleger. «Sie schieben 13-Stunden-Schichten und sind dabei ruhig und hochprofessionell», lobt Pablo Gianinazzi. «Oft kommunizierten sie mit mir über die Augen. Die Zusammenarbeit zwischen den Abteilungen, mit den Sanitätern und den eingesetzten Soldaten lief reibungslos. Die Anweisungen waren präzise und auf den Punkt.»

Es habe immer Zeit für ein freundliches Wort gegeben. «Jeder Patient wurde mit Vornamen begrüsst, auch wenn dieser es nicht hörte», erzählt Gianinazzi. Eine Szene berührt den Fotografen. «Eine Krankenschwester hat einem Mann im Koma vorsichtig den Bart rasiert.»

Die Flüchtlinge hätten ihn auch bewegt, doch ihre Schicksale schienen ihm fern. «Hier im Spital spricht der Patient meinen Dialekt. Hier ist das Opfer einer von uns», sagt Pablo Gianinazzi, hier könne das Virus zum eigenen Schicksal werden.

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?