Sexuelle Übergriffe im Alltag
Ich bin ein Opfer

Sexuelle Gewalt ist in der Schweiz allgegenwärtig. Das ist ein Problem. Darüber zu sprechen braucht Mut. Das ist das zweite Problem.
Publiziert: 03.09.2017 um 12:15 Uhr
|
Aktualisiert: 12.09.2018 um 13:00 Uhr
Sexualisierte Gewalt ist noch immer ein Tabu in der Schweiz.
Foto: Igor Kravarik
Aline Wüst

Ich schreibe es auf. Ich schreibe es nicht. Ich schreibe: Vor drei Wochen war ich mit einer Freundin im Hamam, einem orientalischen Dampfbad. Sie wollte mir etwas Gutes tun. Empfahl, mich massieren zu lassen.

Ich buchte die simpelste Mas­sage: Seifenschaum, 25 Minuten, 51 Franken. Ich trug nur ein Handtuch. Im Hamam ist das normal. Ein Masseur holte mich ab. Er massierte mir kurz den Rücken. Dann wollte er, dass ich mich umdrehe. So weit, so normal. Er legte das Handtuch auf meinen Unterleib. Er massierte. Auch meine Brüste. Es fühlte sich sehr lang an. Ich wollte weg. Während ich reglos dalag, immer wieder der eine Gedanke: Bin ich am Überreagieren? Zum Schluss bedankte ich mich.

«Ich hoffte noch, dass alles normal gelaufen sei»

Als ich den Raum verlassen hatte, kam ich zu mir. Ich erzählte es meiner Freundin. Wir beendeten unseren Hamam-Nachmittag. Redeten über alles, was es in unserem Leben zu besprechen gibt – aber auch immer wieder über die Massage. Am Ende fragte ich den Mann am Eingang, wie so eine Massage abläuft. Er wusste es nicht und holte den Chef. Ich hoffte noch, dass alles normal gelaufen sei. Und wusste ja, dass es das nicht war. Der Chef kam und sagte: Brüste sind tabu. Da kam die Wut. Jetzt erst.Zwei Tage später schrieb ich dem Hamam. Eine Antwort bekam ich nicht. Geantwortet haben Frauen aus meinem Freundes- und Bekanntenkreis. Ein paar Whatsapp-Nachrichten mit der Frage nach ähnlichen Vorfällen genügten.

 «Das Schlimmste: Ich habe kein Wort gesagt»

Sie schrieben: «Ich buchte kürzlich eine medizinische Rückenmassage. Statt massiert zu werden, musste ich in BH und Unterhose 30 Minuten lang Turnübungen vor ihm machen. Er hat meine Beine gespreizt und sich in seiner kurzen Hose gegen mich gelehnt. Ich war mir ziemlich sicher, dass bei diesen Bewegungen etwas verrutscht sein könnte. Er wollte mir auch mehrfach an der Leiste herumdrücken. Ich habe gezuckt. Er sagte mir, das ist, weil ich so unsportlich sei. Das Schlimmste: Ich habe kein Wort gesagt! Danach habe ich gelacht. Bis die Wut kam.»

«Ich hatte solche Angst davor»

Sie sagten: «Ein etwa 50-jähriger Arbeitskollege erzählte über eine Arbeitskollegin, die nicht immer gute Laune hat. Die sollte man mal wieder so richtig durchnehmen, dann würde es ihr auch besser gehen. Ich widersprach nicht.» Sie erzählten: «Ich war im Ausgang, müde, wollte heim. Ein junger Mann fuhr in meine Richtung. Meine Kollegin sagte, dass sie ihn kenne und ich bestimmt mitfahren dürfte. Als wir in meinem Dorf waren, fuhr er in den Wald. Dort riss er mir die Hose runter. Ich konnte mich irgendwie wehren und aus dem Auto flüchten. Ich sagte, ich wolle das nicht. Bot ihm an, ihn oral zu befriedigen. Warum ich das tat? Ich hatte solche Angst davor, dass ich über mich selber sagen muss: Ich bin vergewaltigt worden. Ihm eins zu blasen, war für mich der einzige Ausweg in diesem Moment. Ich hatte solche Angst. Heute frage ich mich: Warum bin ich nicht weggerannt?»Sie schrieben und erzählten: vom Uber-Fahrer, der die Betrunkenheit des Fahrgastes ausnutzte, von Übergriffen beim Physiotherapeuten, von anzüglichen Bemerkungen der Arbeitskollegen des Vaters, vom Chef, der einem über den Arm streichelt, von Vergewaltigungen im Schlaf auf dem Sofa des entfernten Kollegen, vom Unter-den-Rock-Fassen beim Veloabschliessen, von Männern, die sich in der Öffentlichkeit entblössen.

Was bleibt? Wut und Scham

Alle diese Erlebnisse betreffen Frauen, die mir lieb sind. Einer sagte ich: «Es tut mir so leid.» Sie sagte: «Ich danke dir – aber ich brauche kein Mitleid.»

Ich fragte diese Frauen: Wurde euch im Ausgang auch schon mal zwischen die Beine oder an den Hintern gefasst? Denn keine erwähnte das von sich aus. Ich kannte ihre Antwort: «Ja klar, das haben wir doch alle schon erlebt.» Eine 33-Jährige beschreibt, wie sie sich dann fühlt: «Wahnsinnig schwach, grusig, da ist etwas, das ich nicht abwaschen kann. Es zieht sich alles in mir zusammen.» Verbale Übergriffe? Gefühlte tausend Mal, schreibt eine junge Mutter.

Eine andere: «Mir kommen immer wieder Situationen in den Sinn. Aber dann denke ich: Ach, das war doch gar nichts. So ist es wohl, man denkt immer, man bildet sich das nur ein, da war gar nichts.»

Was bleibt? Wut und Scham – auch über uns selbst, weil wir uns nicht gewehrt haben. Ich frage mich: Was genau geht da eigentlich vor? Weshalb bleiben wir höflich?

Das kann jeder Frau passieren

Ich rufe Mirjam Della Betta an, von der Frauenberatung Zürich. Sie sagt, dass solche Taten nicht aus Langeweile geschehen, sondern dass eine Absicht dahintersteckt, die Gelegenheiten gezielt ausgewählt werden. «Für das Opfer hingegen kommt alles völlig unerwartet.» Wie Frauen mit diesem Überraschungseffekt umgehen, sei kein bewusster Entscheid. Die einen wehren sich und kämpfen, andere erstarren. «Wie oft höre ich von Frauen, die mir sagen: ‹Ich bin tough und wortgewandt, ich weiss eigentlich, was ich tun müsste – aber in diesem Moment hatte ich keine Sprache, konnte meinen Körper nicht bewegen.›»Vergewaltigung wird härter bestraft als sexuelle Belästigung. Della Betta aber sagt: Für Betroffene sexueller Belästigung können die Auswirkungen genau die gleichen sein wie nach einer Vergewaltigung. Unterschiedlich dagegen sind die Reaktionen: Manche Frauen hören auf zu essen, andere können nicht mehr schlafen, stürzen sich in Arbeit, fallen in Ohnmacht. Es gibt Frauen, die verdrängen. Auch dies ist kein bewusster Entscheid. Irgendwann aber kommt es wieder hoch, urplötzlich.

Die Beraterin sagt auch: Das kann jeder Frau passieren. Deshalb ist es so wichtig, das Selbstbewusstsein zu stärken und Selbstverteidigungskurse zu besuchen.

«Ich habe den Masseur nicht angezeigt»

5887 Strafverfahren wegen Handlungen gegen die sexuelle Integrität gab es 2016 in der Schweiz. Die Spitze des Eisbergs. Auch ich bin unter Wasser – ich habe den Masseur nicht angezeigt. Es ist mir zu mühsam. Eine Antwort vom Hamam bekam ich. Aber erst, als ich mich als Journalistin an das Unternehmen wandte. Und klar, den Pressesprechern tut es leid. Sie wollen mir das Geld zurückgeben. Ob es Konsequenzen für den Masseur hatte, erfuhr ich nicht. Ab sofort wird bei Frauen, wenn keine andere Person im Raum ist, die Brust abgedeckt. Auch um eine physische Grenze zu markieren.

Frauen, die sich nicht wehren konnten, überlegen hundert Mal, wie sie hätten reagieren wollen. Eine erzählte, was sie gern gesagt hätte: «Wenn das deiner Schwester passieren würde, fändest du es dann auch noch so cool?» Was ich selbst gern getan hätte: aufstehen, mich in mein Handtuch wickeln, ihn anschreien, den Raum verlassen und sofort den Hamam-Chef verlangen.

Das beliebteste Quiz der Schweiz ist zurück.
Jetzt im Blick Live Quiz abräumen

Spiele live mit und gewinne bis zu 1'000 Franken! Jeden Dienstag, Mittwoch und Donnerstag ab 19:30 Uhr – einfach mitmachen und absahnen.

So gehts:

  • App holen: App-Store oder im Google Play Store
  • Push aktivieren – keine Show verpassen

  • Jetzt downloaden und loslegen!

  • Live mitquizzen und gewinnen

Das beliebteste Quiz der Schweiz ist zurück.

Spiele live mit und gewinne bis zu 1'000 Franken! Jeden Dienstag, Mittwoch und Donnerstag ab 19:30 Uhr – einfach mitmachen und absahnen.

So gehts:

  • App holen: App-Store oder im Google Play Store
  • Push aktivieren – keine Show verpassen

  • Jetzt downloaden und loslegen!

  • Live mitquizzen und gewinnen

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?