Jede Nacht hat sie die Geräusche des Gefängnisses im Ohr. «Sie quälen mich, lassen mich einfach nicht los», sagt Anastasia B.* (42) aus Minusio TI. «Das Rasseln der Schlüssel, die Schreie, das Weinen.» Vor allem Männer hätten die 24-Stunden-Einzelhaft am Tag im Untersuchungsgefängnis La Farera kaum ertragen. Doch auch die Russin scheint aus dem Albtraum nicht zu erwachen.
Über 28 Monate sass die zweifache Mutter hinter Gittern. Ein Jahr lang in U-Haft in Lugano TI – den Rest in einer Berner Justizvollzugsanstalt. Sie wurde Ende Juni 2018 zu «lebenslänglich» verurteilt, weil sie ihren Ehemann Giuseppe B.* (51) zum Mord an der Ex angestiftet haben soll.
Im Oktober 2020 sprach sie eine Richterin in zweiter Instanz frei. Doch Anastasia B. bleibt in ihrem Schicksal gefangen. Ein Schicksal, das sie sich 2014 ganz anders vorgestellt hatte.
Anastasia B. suchte einen netten Mann in der Schweiz
«Ich lebte damals mit meinen zwei Töchtern in Russland», so Anastasia B., «übers Internet lernte ich Giuseppe kennen.» Die Russin reist ein paar Mal ins Tessin. Giuseppe B. macht ihr 2015 einen Heiratsantrag. «Er war nett zu uns, ein Familienmensch. Das gefiel mir.» Anastasia sagt Ja.
Der Tessiner Feuerwehrmann lässt sich von seiner Noch-Frau Sabrina B.* (†48) scheiden und heiratet die Russin. Da die Ex nicht berufstätig ist und ihr das jüngste ihrer beiden Kinder zugesprochen wird, muss Giuseppe B. 3000 Franken im Monat an Alimenten zahlen. «Er hatte Schulden und war wütend auf Sabrina», erinnert sich Anastasia.
Der Tag des Mordes veränderte alles
Am 19. Juli 2016 geht Giuseppe B. zur Ex-Frau in die Wohnung in Monte Carasso TI. Er stranguliert sie bis zur Bewusstlosigkeit (Blick berichtete), schneidet ihr die Pulsadern auf. Sabrina B. verblutet. Als die Leiche von der Polizei entdeckt wird, heisst es, die Frau habe sich das Leben genommen. Die Ermittlungen werden eingestellt. Fortan ist der Feuerwehrmann wie ausgewechselt. Giuseppe B. wird aggressiv, eifersüchtig und gewalttätig. «Ich durfte nicht mehr das Haus verlassen, wurde auch geschlagen», sagt Anastasia B., «ich hatte Angst.»
Erst zu lebenslanger Haft verurteilt, dann freigesprochen
Nach zwei Jahren plagen den Mann die Gewissensbisse. Er geht zu einem Priester beichten, dann gesteht er den Mord auch der Polizei. Um sich zu entlasten, beschuldigt er seine russische Frau. Sie habe auf grossem Fuss leben wollen und ihn zum Mord angestiftet. Dem Richter reicht die Aussage. Im ersten Prozess wird Anastasia B. als Haupttäterin zu lebenslanger Haft verurteilt. Giuseppe B. bekommt 16 Jahre Knast. Die Russin rekurriert gegen das Urteil – wird schliesslich vollumfänglich frei gesprochen und bekommt auch eine Haftentschädigung.
«Was habe ich von der Freiheit?», fragt Anastasia B. «Ich warte seit über einem Jahr darauf, dass der Kanton mir meine Aufenthaltsgenehmigung verlängert. Ohne sie kann ich kein Konto eröffnen, keine Wohnung mieten, keinen Job finden.» Anastasia B. fühlt sich zum zweiten Mal bestraft. «Für ein Verbrechen, das ich nie beging», sagt die verzweifelte Russin.
*Namen geändert