Rebellin mit Stethoskop
Eine Ärztin, die nicht auf die Uhr schaut

Theres Blöchlinger (71) ist zufriedener in ihrem Job, weil sie wenig verdient. Damit schwimmt sie als Ärztin gegen den Strom.
Publiziert: 12.08.2018 um 21:49 Uhr
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Aktualisiert: 14.09.2018 um 19:39 Uhr
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Theres Blöchlinger führt seit 15 Jahren das Frauenambulatorium Zürich.
Foto: Peter Gerber
Aline Wüst

Theres Blöchlinger ist Ärztin. Sie funktioniert anders als unser Gesundheitssystem. Obwohl sie ein Teil davon ist. Das hat mit ihrem Leben zu tun. Aber dazu später.

Ihre gynäkologische Praxis liegt in einer Seitengasse der Langstrasse in Zürich. Die Praxis ist schon zu, Blöchlinger noch da. Sie muss Abrechnungen machen. Einen Jahresumsatz von 220'000 Franken macht ihre Praxis. Ihre beiden Assistentinnen arbeiten Teilzeit, wie die andere Ärztin und sie selber. Auf 100 Stellenprozent umgerechnet verdienen sie 5000 Franken, die zweite Ärztin 5300 und sie selber 5600 Franken im Monat.

Selbstbestimmung ist ihr das Wichtigste

Mittlerweile verrechnet sie ihren Lohn mit der Rente. Den Hinweis, dass sie viel mehr verdienen könnte, wischt sie beiseite: «Dann könnte ich keine gute Ärztin mehr sein.» Eine gute Ärztin sei selbstbestimmt. Eine, die Zeit hat, ihr Fachwissen weiterzugeben, damit die Patientin selbstbestimmt entscheiden kann, was sie will.

Selbstbestimmung ist für Theres Blöchlinger das Wichtigste. Dafür verzichtet sie gern auf mehr Geld. Denn weniger Lohn bedeute auch weniger Druck, immer noch mehr Geld einzunehmen, wie es in vielen Spitälern geschehe: Ärzte raten Patienten zu Operationen, die nicht notwendig sind, nehmen sich kaum Zeit, um aufzuklären.

Tod des eigenen Kindes als Wendepunkt

Blöchlingers Eltern waren beide Ärzte. Sie ist privilegiert aufgewachsen, studierte dann selbst Medizin, damals eine Männerwelt. Liess sich nicht entmutigen, arbeitete in der Erwachsenen- und Kinderchirurgie, heiratete einen Arzt, bekam einen Sohn, assistierte in den Jahren danach ein paar Mal pro Monat bei Operationen. Merkte beim zweiten Kind bereits in der Schwangerschaft: Etwas stimmt nicht. Und behielt recht.

Das Kind hatte eine schwere Missbildung. Als der Bub auf der Welt war, wich der Schreck nach und nach der Freude. Nach zehn Wochen stand eine Operation an, der Kleine musste vorher noch in einen Computertomografen. Als er nach Hause kam, wurde sein Zustand schlechter. Blöchlinger hoffte, er werde sich erholen. Entschied aber, ihn nicht ins Spital zurückzubringen. Der Bub starb. Sie hat diese Entscheidung – bei aller Trauer – nie in Frage gestellt.

Von diesem Moment an ging sie rebellischer durchs Leben. Sie entschied sich, auf Gynäkologie umzusteigen. Doch auch dort war die Medizin noch immer eine Männerwelt. Sie bekam das zu spüren.

Beratung dauert so lange wie nötig

Als im Zürcher Frauenambulatorium eine Ärztin gesucht wurde, traf Blöchlinger Medizinerinnen, die ebenso engagiert waren wie sie selbst, Schwangerschaftsabbrüche vornahmen und ihre Arbeit feministisch reflektieren wollten.

Vor 15 Jahren übernahm sie das Frauenambulatorium und lernte nach und nach, wie sie das starre Gesundheitswesen für sich nutzen kann – ohne Krankenkasse oder Patientinnen zu betrügen.

Ein Beispiel: Für eine gynäkologische Vorsorgeuntersuchung hat sie laut Tarifsystem zehn Minuten Zeit und darf dafür 37 Franken verrechnen. Weil dann aber noch viele Fragen offen sind, berechnet sie im Anschluss fünf Minuten Beratungsgespräch. Auf die Uhr schaut sie dabei nicht. Das Gespräch dauert einfach so lange, bis die Patientin keine Fragen mehr hat, also auch mal 20 Minuten. In der Abrechnung schlägt sich das kaum nieder. Aber als Ärztin auf diese Art zu arbeiten, gebe ihr Befriedigung, denn damit mache sie ihre Patientinnen zu selbstbestimmten Frauen. Das sei ihr das Wichtigste, sagt Blöchlinger.

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