Darum gehts
«Unsere Gäste», so nennt Arnold B.* die Inhaftierten des Gefängnisses in Affoltern am Albis. Seit mehr als 25 Jahren arbeitet der grossgewachsene Mann mit Bart und gütigen Augen hier als Aufseher. Noldi, wie ihn alle nennen, gibt sein Bestes. Doch seinen Gästen geht es schlecht.
«Wir müssen Sie aus Sicherheitsgründen rasch wegsperren», meint er kurz nach unserem Eintreffen. Ein Häftling hat es geschafft, die Matratze in seiner Zelle anzuzünden. Sie ist aus speziellem Material, eigentlich kaum entflammbar. Nun muss der Insasse verlegt werden.
Ein gröberes Projekt, denn der junge Mann ist in einem psychischen Ausnahmezustand, gross und äusserst kräftig. «Schaut, dass sie die Sondereinheit schicken, keine normalen Polizisten. Mindestens sechs», weist B. seine Kollegen an. Mit einem «Entschuldigung!» verschwindet er wieder.
Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.
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Das Drama auf dem Excel-File
Das Gefängnis Affoltern am Albis im Kanton Zürich vollzieht Freiheitsstrafen und Reststrafen von bis zu 18 Monaten. Es wurde für 65 Insassen gebaut; bei unserem Besuch sitzen 69 Personen ein. Ziel der Strafen ist die Wiedereingliederung der Inhaftierten, so steht es auf der Website.
Warum das oft ein frommer Wunsch bleibt, zeigt das Excel-File, das Arnold B. eine halbe Stunde später präsentiert. Ein Drama in farbigen Zeilen und Spalten. Nur eine A4-Seite gross, aber voller menschlichem Leid. Und politischem Sprengstoff.
Weit mehr als die Hälfte der Inhaftierten hat kein Recht auf Verbleib in der Schweiz, wird das Land nach Absitzen der Strafe verlassen müssen. Die blaue Spalte markiert, wer aufgrund von psychischen Auffälligkeiten mit besonderer Behutsamkeit und Vorsicht behandelt werden muss. Es sind die meisten.
«Menschen im Gefängnis sind im psychischen Alarmzustand», sagt Arnold B.s Kollege Gregorio B.*, akkurater Haarschnitt, sportliche Brille. Mit vollem Namen möchte auch er nicht genannt werden, sicher ist sicher.
«Wenn die Leute Vorerkrankungen mitbringen, kann es gefährlich werden», fährt Gregorio B. fort. «Azyklische», so nennt man hier diejenigen, die so auffällig sind, dass sie nicht an Arbeits- und Beschäftigungsprogrammen teilnehmen können. Sie dürfen ihre Hafträume nur verlassen, wenn die anderen eingesperrt sind. Sie sind verzweifelt, krank, süchtig, aggressiv.
Aufseher als Ersatzvater
Der renitente Häftling, der seine Matratze angezündet hat, wird in eine Arrestzelle im Untergeschoss geschafft. Der junge Mann, 21 Jahre alt, stammt wie die meisten der Inhaftierten aus dem Maghreb, in wenigen Tagen soll er nach Algerien ausgeschafft werden.
«Er ist kognitiv auf dem Stand eines Kindes und bräuchte Hilfe», sagt Gregorio B. zum Beobachter. Er selber habe in den letzten Monaten als eine Art Ersatzvater fungiert und das Vertrauen des Häftlings gewonnen. Dies habe zu einer Beruhigung geführt.
Aber jetzt, so kurz vor der Ausschaffung, regiere die Panik. Ein junger Mann wie er würde in der Schweiz nach der Entlassung in einer spezialisierten Institution für Menschen mit einer Behinderung betreut, meint Gregorio B. «Was ihn in Algerien erwartet, können wir nur erahnen.»
Psychisch krank und suizidgefährdet
Suchterkrankungen, Panikattacken, Depressionen, psychotische Zustände: Mehr als die Hälfte der Strafgefangenen in Schweizer Gefängnissen ist psychisch krank. Das besagt eine bislang unveröffentlichte Studie des Teams rund um Jérôme Endrass, forensischer Psychologe und Leiter Forschung und Entwicklung des Zürcher Amts für Justizvollzug und Wiedereingliederung. Die Untersuchung liegt dem Beobachter vor.
Die Suizidrate in Schweizer Gefängnissen ist rekordverdächtig hoch. Ein Bericht der Universität Lausanne von 2022 zeigt: Mit 20,2 Suiziden pro 10’000 Insassen wies in jenem Jahr einzig Lettland einen höheren Wert in ganz Europa auf. (Weitere Zahlen und Fakten zu psychisch Kranken in den Haftanstalten finden Sie in dieser interaktiv aufbereiteten Story.)
«Ein unhaltbarer Zustand und der Schweiz nicht würdig», sagt dazu Dominique Marcot, Psychiater und Gefängnisarzt. In vielen Gefängnissen gebe es Gangs, Schutzgelderpressungen, sexuelle Übergriffe. «Auch wir Ärzte, die nahe dran sind, erfahren nicht alles. Ein Gefängnis ist kein Ort für einen psychisch kranken Menschen, der sich unsicher fühlt, an Ängsten leidet», sagt Marcot zum Beobachter. «Er wird kränker und damit zu einem grösseren Risiko für sich selbst und für andere.»
Ohne Respekt geht es nicht
Vor der Zelle des jungen Algeriers sitzt inzwischen ein Gefängnismitarbeiter. Er versucht, durch die Essensklappe in Kontakt mit ihm zu bleiben. Der Gang, durch den wir geführt werden, ist schmal, rechts reiht sich Tür an Tür. «Wo die roten Lichter brennen, sind die Inhaftierten in der Werkstatt. Die anderen sind azyklisch», erklärt Arnold B. – also zu «auffällig» dafür. Wir zählen auf diesem Stock dreimal Rot.
Eine Tür steht offen, die Zelle wird gerade gereinigt. 13 Quadratmeter, Gitter vor dem winzigen Fenster, ein kleiner Fernseher. Wände und Boden wirken plastifiziert, die Matratzen des Stockbetts sind mit dicker blauer Plastikfolie umhüllt.
Zwei Männer werden hier einziehen. Privatsphäre ist nicht vorgesehen. Die Toilette ist nur mit einem Vorhang abgetrennt. Es riecht nach Zigarettenrauch, Desinfektionsmitteln und menschlichen Exkrementen. Diese im Raum zu verteilen oder Richtung Aufseher zu werfen, sei manchmal das einzige Mittel, das die Häftlinge sähen, um zu protestieren oder Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, sagt Arnold B.
Wie schafft man es da, respektvoll zu bleiben? «Mit Gesprächen im Team und täglicher Arbeit an sich selbst.» Wer als Aufseher einen Hass entwickle, müsse gehen. «Sonst wirds gefährlich für alle.»
53 Prozent haben kein schweres Verbrechen begangen
Mehr als 7200 Haftplätze gibt es in der Schweiz, sie sind meist belegt, fast ausschliesslich von Männern. Was viele nicht wissen: 53 Prozent der Inhaftierten haben kein schweres Verbrechen begangen. Sie sitzen unter anderem, weil sie Bustickets oder Bussen nicht bezahlen konnten – oder weil sie illegal in die Schweiz eingereist sind. Wer zur Mittel- oder Oberschicht gehört, geht nur ins Gefängnis, wenn er eine schwere Straftat begangen hat. Alle anderen nicht unbedingt.
«Die Menschen, die wir betreuen, hatten kein Glück im Leben», da sind sich Arnold B. und Gregorio B. einig. Mit keinem möchten sie tauschen. Das halten sie sich immer wieder vor Augen. Das helfe, einen guten Job zu machen.
«Dynamische Sicherheit», so heisst das Konzept, nach dem das Team arbeitet. Für Ordnung sorgen klare Regeln. Und viele Schlüssel und Badges. Doch mindestens so wichtig, das weiss man heute, sind vertrauensvolle Beziehungen zwischen Mitarbeitenden und Inhaftierten. «Im Gegenüber den Menschen sehen», so das Credo von Arnold B. Das von Gregorio B.: «Sich seiner Macht über andere stets bewusst sein und die Regeln auch mal aufweichen, wenn es sinnvoll ist.»
Auch Schuldunfähige sitzen ein
Doch der Grat zwischen gerechter Bestrafung und Machtmissbrauch ist schmal. Der Psychiater Dominique Marcot trifft bei seiner Arbeit in Gefängnissen immer wieder auf Inhaftierte, die an Schizophrenie leiden, an anderen schweren psychischen Erkrankungen oder einer geistigen Behinderung.
Die Schweiz sei das einzige Land in Europa, in dem Gefängnisse als psychiatrische Krankenhäuser fungierten für Menschen, die zu einer Therapie statt einer Haftstrafe verurteilt wurden. Darunter auch solche, die vom Gericht als schuldunfähig eingestuft worden seien. «Das ist fatal.»
In Affoltern stellt sich eine andere Frage: Wie resozialisiert man jemanden, der nicht in der Schweiz bleiben darf? «Indem man alles daransetzt, die Zeit, die Inhaftierte hier verbringen, so menschenwürdig wie möglich zu gestalten», sagt Arnold B. «Was nachher passiert, liegt nicht in unserer Hand.» Ein wenig kümmert es ihn dann doch, aber dazu später.
Im Pausenraum trifft sich das Aufseherteam in blaugrauen Uniformen am Kaffeevollautomaten. Ein paar Frauen, vor allem aber Männer, jung und alt, mit Namen aus der Schweiz und solchen aus fernen Ländern. Wer mehrere Sprachen spricht, ist hier im Vorteil.
Keine Einsicht in die Krankenakten
Hamza E. spricht neben Deutsch auch Arabisch, Rumänisch, Englisch und Spanisch. Der junge deutsche Psychiatriepfleger ist für die Gesundheitsversorgung der Inhaftierten zuständig.
Welche Belastungen ein neu eintretender Straftäter mitbringt, weiss er nicht. Der Datenschutz verbietet ihm die Einsicht in die privaten Krankenakten. Im Umgang mit den Häftlingen brauche es Erfahrung und Gespür, sagt er. Und im richtigen Moment den Beizug eines Psychiaters.
«Wer weiss, was diese Menschen alles erlebt haben, daheim oder auf der Flucht», meint Hamza E. zum Beobachter. Und da seien noch die Drogen und das Pregabalin. Letzteres ist ein euphorisierendes, stimmungsaufhellendes Medikament, das aber auch stark abhängig macht und in den Ländern des Maghreb frei erhältlich ist. Wer es dort noch nicht genommen hat, beginnt oft auf dem Weg nach Europa damit. Medikamente und Psychopharmaka sind in der Arbeit von Hamza E. ein grosses Thema. Sein Ziel ist neben der Stabilisierung seiner Patienten auch, dass er möglichst niemanden entlässt, der süchtig ist. Keine einfache Aufgabe, das weiss auch der Psychiater Dominique Marcot. In den Gefängnissen im Kanton Neuenburg, wo Marcot tätig ist, gibt man Pregabalin generell nicht mehr ab.
Die Rückkehr ist ein Gesichtsverlust
Warum dieses aufgeladene Klima in unseren Gefängnissen, Herr Marcot? «Viele dieser jungen Männer kommen mit hohen Erwartungen in die Schweiz. Sie möchten arbeiten, Geld verdienen, ihre Familien unterstützen.»
Sie wüssten, dass ihr Land so arm sei, weil Europa es einst ausgebeutet hat, und möchten sich jetzt ihren Teil zurückholen. «Wenn sie dann in einer Zelle landen, ohne die geringste Perspektive, bricht ihr ganzes Leben zusammen.» Eine unfreiwillige Rückkehr in ihre Heimat sei der totale Gesichtsverlust.
Und just dort setzt ein Pilotprojekt an, das im Kanton Zürich so erfolgreich war, dass es nun definitiv umgesetzt wird: Entlassene ausländische Straftäter werden für den Neustart im Herkunftsland unterstützt. Mit Weiterbildungen, fachlicher Beratung, in wenigen Fällen auch mit der finanziellen Unterstützung für ein Projekt.
Was klingt wie ein Bonus für Straftäter, spart dem Kanton Zürich sehr viel Geld. Und es verhindert, dass Straffällige kurz nach ihrer Entlassung gleich wieder aufgegriffen werden. «Eine geordnete Ausreise ist das Beste, was passieren kann», sagt auch Jacqueline Fehr, Regierungsrätin und Justizdirektorin des Kantons Zürich, im Gespräch mit dem Beobachter.
Und was kommt nach der Entlassung?
Wer seine Strafe in Affoltern beendet hat und nicht bleiben darf, wird von der Polizei bis an die Grenze des Heimatlands gebracht, unter Zwang ausgeschafft – oder taucht in der Schweiz unter. Von «trockenen Entlassungen» spricht man, wenn ein Mensch ohne passende Anschlusslösung aus dem Gefängnis entlassen wird.
Gerade bei Straftätern ohne Bleiberecht, mit kognitiven Einschränkungen und wenig Kenntnissen der hiesigen Verhältnisse bedeutet die Entlassung einen Schritt in eine ungewisse Zukunft.
Arnold B. und Gregorio B. geben auch am Tag des Austritts ihr Bestes. Sie begleiten die Freigelassenen zum Busbahnhof, helfen Überforderten beim Lösen des Tickets. «Weil wir uns nichts mehr wünschen, als dass sie den Absprung schaffen.» Und nichts mehr fürchten, als dass sie eine Woche später wieder zu ihren Gästen zählen.
* Namen bekannt