Psychiater Mario Gmür warnt vor Psycho-Wahn in der Justiz
«Gutachter machen zu viele Fehler»

Der erfahrene Gerichtsgutachter Mario Gmür (69) warnt vor dem Psycho-Wahn in der Justiz.
Publiziert: 04.05.2014 um 19:32 Uhr
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Aktualisiert: 05.10.2018 um 19:42 Uhr
Von Walter Hauser

Gerichtspsychiater ist ein exklusiver Job. Nur wenige Dutzend Experten in der Schweiz dürfen ein Gutachten über Angeschuldigte erstellen. Einzelne Psychiater haben damit erheblichen Einfluss auf die Urteile der Justiz.

Zu viel, findet der bekannte Zürcher Psychotherapeut und Analytiker Mario Gmür (69), der selbst als Gutachter tätig ist. Er übt jetzt schärfste Kritik an seinen Kollegen und an den Gerichten.

Richter schieben Verantwortung ab

«Die Richter wenden das Strafrecht nicht gemäss ihrem gesetzlichen Auftrag an», klagt Gmür. «Stattdessen schieben sie faktisch die Verantwortung an eine ausgesuchte Clique von Gerichtspsychiatern ab.» Der «Psychiatrie-Wahn» in der Strafjustiz sei «rechtsstaatlich bedenklich». Der Experte: «Psychiater höhlen den Rechtsstaat aus!»

Dabei ist eigentlich alles im Strafgesetzbuch festgehalten: Welche Strafe einem Täter bei welchem Delikt droht – und wie lange er dafür ins Gefängnis muss. Doch die Realität sieht laut Gmür anders aus: «Der Richter entscheidet nicht mehr selbst, sondern flüchtet sich in Gutachten – die dann meist in endlose und kostenintensive Therapien münden.»

Zu viele Gutachten

Selbstverständlich seien Gutachten bisweilen nötig, etwa zur Abklärung von Schizophrenie oder Drogensucht. Heute jedoch ordneten viele Richter psychiatrische Expertisen in grosser Zahl an – mit verheerenden Auswirkungen, sagt Gmür: «Die Täter werden nicht aufgrund einer bestimmten Tat bestraft, sondern aufgrund ihrer Persönlichkeit und ihrer nicht klar bewiesenen Gefährlichkeit.»

Mit anderen Worten: Je grösser die Gutachter das Rückfall-Risiko einschätzen, desto länger bleiben die Delinquenten in Haft. Viele Gutachter gäben vor, die Gefährlichkeit eines Täters mit mathematischer Genauigkeit bestimmen zu können, so Gmür. «Das ist falsch. Das Innenleben eines Straftäters lässt sich doch nicht wie ein Schädel vermessen!» Die Experten suggerierten eine Sicherheit, die es so nicht gibt. «Die Gutachter machen zu viele Fehler», sagt Gmür.

Liste von Fehleinschätzungen

Zum Beweis führt er viele folgenschwere Fehleinschätzungen der bekanntesten Gerichtspsychiater an. Erst vor einem Monat wurde bekannt, dass Thomas Knecht (56), Leiter Forensik am Psychiatriezentrum Herisau, in einem Gutachten die Gefährlichkeit des Liechtensteiner Amokläufers Jürgen Hermann (57) massiv unterschätzt hatte. Und Gutachter Martin Kiesewetter (69) hielt die Rückfallgefahr des Basler Serienvergewaltigers Markus Wenger (57) für sehr gering. Kurze Zeit später, 2012, verging sich Wenger erneut an Frauen.

Laut Gmür ist auch das Gegenteil als katastrophal zu werten: dass Täter aufgrund von Gutachten endlos therapiert oder gar ohne jede Therapie lebenslänglich verwahrt werden.

Für Gmür ist klar: «Die Richter müssen wieder den Mut haben, selber ihre Urteile zu fällen – und sie nicht den Göttern in Weiss  überlassen.»

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