Nutzlose medizinische Eingriffe
600 Millionen Franken ohne Wirkung

Jedes Jahr geben die Schweizer Unsummen für wirkungslose Behandlungen aus. Jetzt fordern die Krankenkassen den Bund zum handeln auf.
Publiziert: 28.12.2020 um 13:43 Uhr
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Ärzte im Einsatz: Jedes Jahr werden laut Santésuisse 600 Millionen zuviel dafür ausgegeben.
Foto: Keystone
Reza Rafi

Kein Bereich steht so sehr im Fokus wie das Gesundheitswesen. Seit Ausbruch der Corona-Pandemie herrscht dort Ausnahmezustand. Umso wichtiger ist ein effizienter Betrieb jenseits von Covid-19.

Dass es noch Verbesserungs­potenzial gibt, zeigt Santésuisse auf. Der Krankenkassenverband stützt sich auf eine Auswertung der Eidgenössischen Finanz­kontrolle vom 19. Mai. Diese beruft sich auf die Daten des Bundes­amtes für Gesundheit (BAG) und kommt auf eine erstaunliche Summe.

602 Millionen Franken könnten demnach gespart werden, wenn erwiesenermassen nutz­lose Behandlungen nicht mehr von der Grundversicherung bezahlt werden müssen.

In der Verantwortung steht das BAG, das seit Oktober mit Anne Lévy (49) unter neuer Leitung steht. Bei der Behörde verfügt man seit 2015 über ein wissenschaftliches Instrument mit dem Namen Health Technology Assessment (HTA). Damit sind die wirkungslosen medizinischen Leistungen ermittelt worden.

Die Krankenkassen nehmen die Zahl von 602 Millionen zum Anlass, Druck zu machen.

Um die Prämienzahler zu entlasten, fordert Matthias Müller, Leiter Abteilung Politik und Kommunikation bei Santésuisse, dass das BAG diese Therapien von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung streicht, wie er zu SonntagsBlick sagt.

Auch Risiko für Patienten

Unnötige Eingriffe seien ausserdem immer auch ein Risiko für den Patienten. Müller: «Leider lässt sich das Bundesamt mit den entsprechenden Entscheiden sehr viel Zeit. Deshalb konnten bis anhin keine Kosten ein­gespart werden.» In mehreren Fällen seien Entscheide durch das BAG pendent.

Damit schliesst sich der Verband der Kritik der Finanzkon­trolleure an, die in ihrem Bericht vom Mai «verlorene Jahre» durch das «zaghafte» Vorgehen monieren. Darin heisst es: «Nach heutigem Stand hat das BAG mittels HTA noch keine Leistungen gestrichen und daher auch keine Einsparungen erzielt.»

Das BAG hat laut Angaben auf seiner Homepage neun solche HTA-Prüfverfahren durchgeführt und die Resultate publiziert. Mehrere Vorschläge für Prüfprozesse hat auch Santé­suisse eingereicht.

Zu den Behandlungsmethoden, deren Kassenpflicht durch die HTA-Verfahren infrage gestellt wird, gehören laut Santé­suisse gewisse sogenannte arthro­skopische Eingriffe am Knie, eine bestimmte Eiseninfusion bei ­Eisenmangel oder die Verabreichung des Mittels Chondroitin bei Gelenkarthrose.

«Solange keine Entscheide zur Streichung von Leistungen gefällt werden, müssen die Prämienzahler die unnötigen Kosten jedoch weiterhin tragen», sagt Müller.

Gleichzeitig findet er auch versöhnliche Worte. «Wir anerkennen, dass das BAG eine Vielzahl an Bereichen in Angriff genommen hat und viel Energie in die wissenschaftliche Erarbeitung der Themen steckt.» Leider ha­pere es aber bei der konsequenten Umsetzung der Erkenntnisse.

Laut BAG falsch angewendet

Beim Bundesamt präzisiert man auf Anfrage, dass der grösste Teil der unnötigen Behandlung im Bereich von nicht angemessen eingesetzten Leistungen liege, «die keinen Nutzen für die spezi­fische Krankheitssituation bringen».

Dies bedeute laut BAG aber nicht, dass diese Leistungen aus der Leistungspflicht ausgeschlossen werden sollten, «da sie richtig angewendet ihren Nutzen haben».

Es brauche «andere Ansätze zur Vermeidung unnötiger Leistungen». Als Beispiele genannt werden Verminderung von Fehlanreizen, Stärkung der Gesundheitskompetenz, Informiertheit der Patienten sowie die Kontrolle seitens Versicherer.

Schliesslich beteuert der Me­diensprecher: «Das BAG setzt ­alles daran, die Umsetzungen rasch voranzutreiben. Es hält ­keine Informationen zurück oder ­zögert Entscheide hinaus.»

Im September reichte FDP-­Nationalrat Philippe Nantermod (36) eine Interpellation zum ­Thema ein («Vereinfachung und Beschleunigung von Health Technology Assessments»).

In seiner Antwort gelobt das von Bundesrat Alain Berset (48) geführte Innendepartement Besserung – und stellt in Aussicht, dass 2021 weitere 15 Prüfberichte fertiggestellt und elf neue gestartet würden.

Die Schweiz hat das europaweit teuerste Gesundheitssystem. Das dürfte indes noch länger so ­bleiben.

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