Neuer Fotografie-Band
Tiefer Einblick in die europäische Seele

Jahrelang war Martin Rütschi in Europa unterwegs. Bereiste 49 Staaten, fotografierte 1300 Menschen. Trotz Globalisierung, trotz Internet traf der Fotograf auf eine grosse kulturelle Vielfalt. Nun erscheint dazu der Band «Face of Europe».
Publiziert: 27.11.2021 um 20:08 Uhr
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Martin Rütschi ist freischaffender Fotograf und lebt in der Nähe von Zürich.
Foto: Martin Rütschi

Egal, ob in Russland oder Deutschland – überall begreifen sich die Menschen als Europäer. Das stellte der Fotograf Martin Rütschi auf seinen Reisen fest. Er sah Gemeinsamkeiten. An den entlegensten Orten tragen die Menschen die gleichen T-Shirts, hören die gleiche Musik wie in den grossen Metropolen. Aber auch Unterschiede. «Die kulturelle Identität ist trotz Globalisierung stark», sagt er. Die Deutschen hätten beispielsweise einen anderen Bezug zum Essen als die Italiener oder Franzosen.

Auf seine Motive stiess Rütschi im Alltag. Er traf sie und fragte sie spontan an. «Ich wollte sie so zeigen, wie sie wirklich sind. Nicht in ihrer Eitelkeit.» Die Bilder entstanden deshalb auch in einem improvisierten Freiluft-Fotostudio, mit nichts mehr als einem weissen Hintergrund, einem Stativ und einer grossformatigen Kamera.

In einem persönlichen Rückblick präsentiert er sechs Bilder aus dem Fotoband. Und die Geschichten dahinter.

Blaublüter in England

«Ein wichtiges Ereignis im Kalender der Queen von England ist das Pferderennen Royal Ascot. Während drei Tagen findet sich der gesamte britische Adel in Ascot ein. Für die Männer und Damen gilt ein strikter Dresscode. Highlight sind natürlich die tollen Hüte der Damen. Als ich Gerard Osei-Bonsu und Louise Kirketerp gesehen habe, war ich sofort fasziniert von diesem Paar. Lustigerweise zogen die beiden kurz danach in die Schweiz, und ich traf sie zufällig auf einer Cocktail-Party wieder. Wir haben viel gelacht und einige Gin Tonics getrunken. What a small world.»

Wettbewerb unter Bauern in Irland

«Die zwei Bauernkinder Margaret Connors und ihre Zwillingsschwester Elisabeth habe ich beim Ploughing im County Louth im Nordosten Irlands getroffen. Einer der bedeutendsten Anlässe des Jahres. Hunderte von Bauern kommen mit ihren Traktoren und Pflügen zusammen – für einen Wettbewerb im Pflügen. Die Connors waren über 200 Kilometer aus ihrem Heimatdorf hergereist. Es regnete, das machte es zu einem anspruchsvollen und dreckigen Wettbewerb. Margaret war neugierig auf mein Projekt und fragte mir Löcher in den Bauch.»

Japanische Köchin in Berlin

«An einem Sonntagmorgen gegen 10 Uhr bauten ich und mein Assistent unser mobiles Studio vor dem legendären Club Berghain in Berlin auf. Ich wollte ein paar Partygäste nach dem Feiern porträtieren. Die Japanerin Ayumi Sayeo kam mit Freunden aus dem Club. In gutem Deutsch erzählte sie mir, dass sie bereits seit eineinhalb Jahren in Berlin lebt und als Köchin arbeitet. Auf die Frage, ob sie sich nun als Asiatin oder doch eher als Immigrantin fühle, erwiderte sie bestimmt: ‹Ich bin eine Europäerin.›»

Fischer auf Mykonos

«Als ich am Hafen von Mykonos Ciopioe Kypantohnc sah, dachte ich: So muss ein griechischer Fischer aussehen. Ich war nicht der Einzige mit dem Gedanken. Er wurde schon für unzählige Filme engagiert. Bevor er vor meine Kamera trat, posierte er wenige Schritte entfernt noch für eine Filmszene. Er sagte, in den vergangenen 60 Jahren habe sich im Ort viel verändert. Und lachte, schwang sich kraftvoll auf seinen dreirädrigen Piaggo-Pick-up und donnerte davon, denn er müsse sich dringend um seine Arbeit als Fischer kümmern.»

Freestylen in Zürich

«Das ‹Freestyle› in Zürich war ein Event auf der Landiwiese in Zürich, wo sich Jugendliche während drei Tagen und Nächten tollkühne Sprünge von Snowboardern, Motocrossern und Sportlern anderer Disziplinen anschauten. Vor allem aber wollten sie nach einem heissen Sommer Spass mit Freunden haben und chillen. Ich fand ihren Style bemerkenswert! Es beeindruckt mich immer wieder, wie kreativ und individuell sich die Jugend heute kleidet – trotz der grossen globalen Modelabels. Lorena Turs Look hat mir besonders gefallen.»

Vier Männer – zwei gegensätzliche Welten

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«Diese vier Männer habe ich an zwei verschiedenen Orten getroffen. Den Automechaniker Vladimir Semchenko und den Bauarbeiter Lev Birinzev (links) am äussersten östlichen Ende Europas, in einer russischen Kleinstadt am Rande des Urals. Die zwei Jugendlichen Andreas Bocher und Tobias Westeregraad (rechts) in Kopenhagen. Die skandinavischen Jungs sind übers Wochenende kurz von Norwegen nach Kopenhagen zum Skaten gekommen – während die Russen wohl noch nie ihre Provinz verlassen haben.»

Buchvernissage: «Face of Europe» (erhältlich über www.ruetschi.ch). 1. Dezember 2021, 19 Uhr. Photobastei, Sihlquai 125, Zürich.

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