Neue Serie! Magersucht
Einmal Hölle und zurück ins Leben

Leonie (20) hat ein erschütterndes Buch über ihre Magersucht geschrieben. Lesen Sie, wie ihre Mutter diese schlimme Zeit erlebte. Zeilen, die von Tod und Leben, Verzweiflung und Hoffnung handeln.
Publiziert: 22.09.2012 um 23:34 Uhr
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Aktualisiert: 30.09.2018 um 19:42 Uhr
Leonie und ihre Mutter
Foto: Daniel Kellenberger

Ich bin die Mutter einer magersüchtigen Tochter. Ich habe geweint, geschrien, gebetet, gehofft und weggeschaut. Ich fuhr im Auto auf eine Kurve zu und dachte: Was ist, wenn ich einfach geradeaus fahre? Die Sehnsucht, dass der Schmerz über mein sterbendes Kind endlich aufhört, wurde immer grös­ser. Leonie lag im Spital, ihre Zwillingsschwester war zu Hause, ich habe gearbeitet, was mich geerdet hat, und irgendwie war ich in der Zeit, in der Leonie zwischen Spital und Klinik pendelte, wie in einem falschen Film. Ich wünschte, das alles hätte mit mir nichts zu tun, ich sei nur Zuschauerin in einem Horror-­Drama – aber ich war und bin die Mutter einer magersüchtigen Tochter.

Wir verbrachten Weihnachten und Neujahr im Spital. Um zehn Uhr mussten Leonies Schwester, ihr Vater und ich wieder gehen. Neben meinem Kind lag eine alte Frau, die wimmerte. Leonie hatte ihre zweite Magensonde gelegt gekriegt. Ein halbes Jahr lang ging ich nach der Arbeit Tag für Tag zu ihr. Habe versucht, sie zu motivieren, sie angeschrien, gedroht, geschwiegen, versucht abzulenken. Ihr Vater und ihre Schwester waren meist dabei. Ich durchlebte die Hölle, habe es kaum ausgehalten, es brach mir das Herz, mein so geliebtes Kind zu sehen, das lieber sterben wollte, als zu essen und zu trinken. Leonie fielen die Haare aus, sie hatte wunde Druckstellen. Nur schwer konnte ich mich überwinden, sie in den Arm zu nehmen, nur noch Knochen zu halten. Ich hätte sie nicht nackt sehen können, es hätte mich emotional umgebracht. Das, was sie ihrem Körper antat, geschah in meinem Herzen, ein langsames Sterben. Wenn auch nur, um den Schmerz nicht mehr zu spüren.

Wann ist meine Tochter in die Magersucht geraten? Irgendwann, vor vielen Jahren. Als ich eine Essstörung bemerkte, war sie schon mittendrin, wie sie mir später erzählte. Es begann damit, dass sie nur noch Curry-Instantsuppen ass, ständig Magenprobleme hatte, sich aber nicht helfen liess. Da hätte ich sie zu einem Arzt bringen müssen. Doch sie war so hartnäckig, ich hatte nicht die Kraft, mich gegen sie durchzusetzen. Erst als sie gar nichts mehr ass, fast nichts mehr trank, habe ich sie ins Spital zwangseingeliefert. Sie hat geschrien, wollte nicht bleiben. Auch als ihr die Ärzte sagten, sie schwebe in Lebensgefahr –  es war ihr einfach egal. Leonie wollte sich auflösen, nicht mehr sein. Da bin ich zum ersten Mal hart geblieben, gegen ihren damals kranken Willen. Für ihr Leben. Es war ein nicht enden wollender Albtraum. Wir befanden uns in ihrer abgekapselten Welt.

Leonie zu sagen, sie sehe gut aus, war für sie das Schlimmste. Ihr zu sagen, sie sehe aus wie der lebende Tod, wie der absolute Horror, war für sie ein Kompliment. Sie schob mit letzter Kraft ihren Infusionsständer durch den Spitalgang, um noch ein paar Kalorien mehr zu verbrennen. Stolz erzählte sie, dass sie oft stundenlang nur leicht bekleidet auf dem Spitalbalkon ausharrte, um zusätzliche Kalorien zu verbrennen. Ich war so wütend auf sie … und so hilflos. Ich wollte sie schütteln, zur Vernunft bringen. Sie sollte nur wenigstens einen Bissen essen, doch sie konnte nicht. Jahrelang hat sie uns belogen, es sei alles gut, sie habe schon gegessen, würde noch essen. Sie war ein Profi darin – wie wohl alle Suchtkranken.

Nie vergesse ich den Moment, als ihr die erste Magensonde gelegt wurde. Ich musste das Zimmer verlassen. Als ich wieder hereinkam, hatte sie rote Flecken im Gesicht und weinte. Doch das Erste und Einzige, was sie zu mir sagte, war: »Mama, schau mal meine dicken Oberschenkel.« Da war mir klar, ich hatte sie an die Anorexie verloren. Und ich fällte einen Entscheid: Ich war bereit, sie ins Leben zurückzubegleiten. Doch ich war nicht bereit, sie in den Selbstmord zu begleiten, den sie zu begehen entschlossen war. Diesen Weg hätte sie ganz alleine gehen müssen – ich wäre daran zerbrochen. Bin es die letzten Jahre immer mal wieder beinahe.

Weshalb geriet meine Tochter in die Magersucht? Ich weiss es nicht. Es ist wohl eine Kombina­tion von allem. Die Trennung von ihrem Vater und mir, die Situa­tion, eine Zwillingsschwester zu haben, die Freunde hatte, ohne sich anzustrengen, und immer wusste, was sie wollte. Erschreckenderweise sagt Leonie heute, sie habe einfach ein bisschen abnehmen wollen. So einfach, so tragisch. Heute ist sie zurück im Leben. Sie lacht, hat neue Freunde, isst, hat ihren Beruf, den sie liebt, und erzählt nun ihre Geschichte. Und sie kämpft nach wie vor. 24 Stunden am Tag. Gott sei Dank nicht mehr gegen das Leben, sondern gegen die Sucht.

Ich kann aus dem um ein Haar tödlich endenden Drama allen Eltern nur eines raten: Ändert Ihr Kind seine Essgewohnheiten, schauen Sie genau hin, schauen Sie nie weg, und handeln Sie schnell!

Hungern wird zur Krankheit

Magersucht («Anorexia ner­vosa») ist eine Störung des Essverhaltens, bei der eine Person ihr Körpergewicht mit Absicht durch Essverweigerung herunterhungert. Betroffen sind vor allem Mädchen nach der Pubertät und junge Frauen – rund zwei Prozent der Bevölkerung. Die Magersucht ist eine schwere psychische Krankheit, die bei 10 bis 15 Prozent der Betroffenen tödlich endet. Man spricht von Anorexie, wenn das Körpergewicht mehr als 15 Prozent unter das Normalgewicht sinkt oder der Body-Mass-Index weniger als 17,5 beträgt. Direkte Störungen sind Muskelschwäche, tiefer Blutdruck, Herzstörungen, Haaraufall, Osteoporose. Magersüchtige leiden an gestörter Selbstwahrnehmung, sie fühlen sich zu dick, selbst wenn sie nur noch Haut und Knochen sind. Ursachen sind meist gesellschaftliche Faktoren sowie ein Mangel an Selbstwertgefühl.

Magersucht («Anorexia ner­vosa») ist eine Störung des Essverhaltens, bei der eine Person ihr Körpergewicht mit Absicht durch Essverweigerung herunterhungert. Betroffen sind vor allem Mädchen nach der Pubertät und junge Frauen – rund zwei Prozent der Bevölkerung. Die Magersucht ist eine schwere psychische Krankheit, die bei 10 bis 15 Prozent der Betroffenen tödlich endet. Man spricht von Anorexie, wenn das Körpergewicht mehr als 15 Prozent unter das Normalgewicht sinkt oder der Body-Mass-Index weniger als 17,5 beträgt. Direkte Störungen sind Muskelschwäche, tiefer Blutdruck, Herzstörungen, Haaraufall, Osteoporose. Magersüchtige leiden an gestörter Selbstwahrnehmung, sie fühlen sich zu dick, selbst wenn sie nur noch Haut und Knochen sind. Ursachen sind meist gesellschaftliche Faktoren sowie ein Mangel an Selbstwertgefühl.

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