Ausgerechnet er!» Nachdem die mutmasslichen sexuellen Missbräuche durch den Reformpädagogen Jürg Jegge Anfang Woche bekannt wurden (siehe Box), bricht jetzt der Lehrerverband sein Schweigen. «Es ist schrecklich!», sagt Jürg Brühlmann, Chef der Pädagogischen Arbeitsstelle. «Jürg Jegge war ein Vorbild für uns alle. Die Enttäuschung ist riesig. Es tut richtig weh!»
Keine Schläge im Schulzimmer dank Jürg Jegge
Reformpädagogen wie ihm sei es zu verdanken, dass in Schweizer Klassenzimmern heute keine Ohrfeigen, fliegende Kreiden oder Erniedrigungen mehr toleriert würden. «Bis in die 70er-Jahre war Gewalt durch Lehrer noch sehr verbreitet», sagt Brühlmann. «Jürg Jegge war in diesem Klima ein Pionier, zeigte uns Lehrern, dass wir die Schüler ernst nehmen und jedes Kind als Individuum fördern sollen.»
Gerade die Nähe zwischen Lehrer und Schüler, die den bisher zwei bekannten mutmasslichen Opfern zum Verhängnis wurde, werde dank des Ansatzes von Jürg Jegge als pädagogisches Instrument genutzt. «Jetzt müssen wir einsehen, dass diese Nähe auch sexuell ausgenutzt wurde», sagt Brühlmann. Der Pädagoge gibt zu bedenken: Jürg Jegge habe vor allem auch Kinder betreut, die zu Hause geschlagen wurden. «Da wurde er teils sogar zum Elternersatz und hat Grenzen nicht eingehalten, die auch ein Vater einhalten müsste.»
Mutmassliche Täter wie Jürg Jegge würden sich im Hirn absurde Erklärungen, die ihren Missbrauch legitimieren, zurechtlegen. «Sie merken selbst nicht mal, dass sie die Grenze längst überschritten haben. Und am Ende glauben sie sogar, sie täten etwas Gutes. Es ist wirklich unfassbar.»
«Anfassen darf für Lehrer nicht zum Tabu werden»
Bereits das Beispiel der deutschen Odenwaldschule, wo in den 1970er-Jahren Kinder systematisch sexuell missbraucht wurden, zeige diese so falsche Auffassung von Reformpädagogik, sagt Jürg Brühlmann.
Doch trotz der Vorwürfe an den einst gefeierten Schweizer Reformpädagogen: «Anfassen darf für einen Lehrer heute nicht zum Tabu werden!», sagt Jürg Brühlmann. «Denn professionell eingesetzte Berührungen können Kinder beruhigen oder ermutigen.»
Eine kurze Berührung an der Schulter beispielsweise sei eine tröstende Geste und ein legitimes pädagogisches Mittel. «Beim Kind hinterlässt es das Gefühl: Dort schaut jemand auf mich!»
Schüler sollen mit Experten übers Onanieren sprechen, nicht mit Lehrern
Auch Sexualität müsse im Klassenzimmer thematisiert werden, so Brühlmann. «Aber heute wissen wir: Es braucht jemanden von aussen dafür. Über Dinge wie das Onanieren muss ein Jugendlicher oder eine Jugendliche nicht mit dem Klassenlehrer sprechen können, aber sehr wohl mit einem Fachmann, mit dem er sonst nichts zu tun hat.»
Der Pädagoge räumt ein: «Missbrauch lässt sich leider nie ganz verhindern.» Aber Massnahmen wie Glaswände bei Einzelunterricht oder die Direktive, dass die Schulzimmertüren immer offen bleiben müssen, schützen Kinder «und auch die Lehrer». Das Wichtigste sei aber, darüber zu sprechen. «Insofern können wir Opfern so sehr dankbar sein, dass sie ihr Schweigen gebrochen haben.»
Für Jürg Jegge gilt die Unschuldsvermutung.