Das Problem hockt auf dem Baum und will bloss Eier ausbrüten. Doch mit der Privatsphäre ist es nicht weit her. Die 40 Saatkrähen-Paare beim Kantonsspital sind mittlerweile im halben Aargau bekannt. Mehr noch: Sie sind zum Politikum geworden.
Die Hauptrolle im Drama von Aarau gehört aber nicht den Vögeln, sondern dem Baum. Einer Rotbuche, hundertjährig. Auf dieser Buche nisten die Krähen. Das stört einige. Darum soll der Baum weg. Dass er gefällt wird, passt andern nicht. Das macht die Sache so kompliziert.
Begonnen hat das Trauerspiel vor zehn Jahren. Eine Kolonie von Saatkrähen liess sich vor dem Haupteingang des Spitals nieder. Wie sollten sie auch wissen, dass es in dem Gebäude Menschen gibt, die mit dem Tod kämpfen, und dass sie, die Krähen, gemeinhin als Todesboten gelten, dass manche Zeitgenossen in ihrem Gekrächze eine Botschaft hören – «Grab, Grab». Doch das ist nicht das einzige Problem: die Krähen machen ausserdem Dreck. Auch der stört. Die Spitalleitung versuchte also, die Krähen zum Umzug zu motivieren. Doch die Vögel blieben.
Der gute Wille ist aufgebraucht
In ihrer Hilfslosigkeit zog die Spitalleitung gar eine Tierkommunikatorin zu Rate. Die sprach mit den Krähen, die sagten ihr (so die Mediensprecherin des Kantonsspitals): «Wir sind hier, weil hier sehr viele belastende Emotionen anfallen. Diese negativen Emotionen lösen wir auf.»
Die «Aargauer Zeitung» hakte kritisch nach, wollte wissen, welche Massnahmen nun ergriffen würden. Die Sprecherin, um keine Antwort verlegen: Man hänge Klangelemente im Park auf, um den Krähen zu sagen: «Wir haben euch verstanden. Jetzt müsst ihr nicht mehr so viel ‹arbeiten›, also krähen, und könnt weiterziehen.» Die Krähen blieben. Sie verstanden wohl die Sprache der Spitalleitung nicht.
Nun ist aller guter Wille aufgebraucht, Vogeldreck und Gekrächze müssen endlich weg. Anfang Februar fuhr ein Lastwagen vor, der die gefällte Buche abtransportieren sollte. Doch Krähen- und Baumfreunde sahen es anders, erschienen zahlreich, bildeten Menschenketten um den Baum, hielten Transparente in die Höhe. Die Spitalleitung stoppte das Fällen.
Eine Petition zum Schutz des Baums wurde inzwischen von 1256 Menschen unterzeichnet. Die Buche bekam eine Galgenfrist. Bis Ende Juli steht sie sicher noch. So lange dauert die landesweite Schutzfrist für die auf ihr nistenden Saatkrähen. Danach entscheidet die Spitalleitung, wie es weitergehen soll. Manch einer wird sich nun fragen: Wie können ein Baum und ein paar Krähen solche Massen mobilisieren?
«Sie verdienen Schutz und Respekt»
Die Antwort ist sowohl bei den Vögeln wie bei der Rotbuche zu finden. Über Krähen weiss Christoph Vogel von der Schweizerischen Vogelwarte Sempach Bescheid. Er hält sie für gesellige Tiere, treu bis in den Tod, mit Familienleben und Erinnerungsvermögen. Und er rühmt ihre Klugheit, wie schon der griechische Dichter Aesop in seinen Fabeln: Eine Saatkrähe kommt nicht an Wasser in einem Krug. Was tut sie? Wirft Steine hinein, bis der Wasserspiegel so hoch ist, dass sie trinken kann. Die Fabel wurde über zweitausend Jahre später in einem Experiment nachgestellt und siehe da: Die Saatkrähen warfen tatsächlich Steine ins Wasser.
- 66 Waldbäume stehen pro Einwohner in der Schweiz (total 535 Mio. Bäume).
- 1500 Jahre alt ist der älteste Baum der Schweiz. Die Eibe steht in Crémines im Berner Jura.
- 6994 Saatkrähen-Paare leben in der Schweiz (Stand 2015).
- 20 Jahre alt wurde die älteste bekannte Saatkrähe.
- 66 Waldbäume stehen pro Einwohner in der Schweiz (total 535 Mio. Bäume).
- 1500 Jahre alt ist der älteste Baum der Schweiz. Die Eibe steht in Crémines im Berner Jura.
- 6994 Saatkrähen-Paare leben in der Schweiz (Stand 2015).
- 20 Jahre alt wurde die älteste bekannte Saatkrähe.
Wohl auch darum lässt sie sich nicht so einfach mit Klangelementen vertreiben. Den Saatkrähen einen Vorwurf für ihr natürliches Verhalten zu machen, findet Christoph Vogel falsch: Sie haben einen Lebensstil, der sie befähige, in einer veränderten Umwelt zu überleben, sagt er. «Darum verdienen sie Schutz und Respekt.»
Kampf zwischen Industriemoderne und Bevölkerung
Geht es um die Liebe zum Baum, ist der Kulturanthropologe Kurt Derungs ein guter Ansprechpartner. Er weiss, dass bei Menschen durch Gefahr für einen Baum bewusst oder unbewusst viele Dinge zusammenkommen. Der Baum steht unter anderem für die Sehnsucht, der Natur wieder näher zu sein. Eine bedrohte Rotbuche kann also zum Anlass werden, sich für die geschundene Natur einzusetzen.
Die historische Dimension kommt hinzu. Früher entfachte sich an Bäumen schon mal der Kulturkampf zwischen Christentum und alter Glaubenswelt. Bekanntes Beispiel: Gegen den Willen der Bevölkerung fällte der Eremit Sigisberg in Disentis im 7. Jahrhundert eine heilige Eiche, weil sie einer heidnischen Gottheit gewidmet war. Wo damals die Eiche stand, steht nun das Kloster. Heute gehe es mehr um den Kulturkampf zwischen Industriemoderne und sensibler Bevölkerung, sagt Derungs.
Crowdfunding, um den Baum umzupflanzen
Vorbei ist die Krähen-Diskussion noch lange nicht. SP-Grossrätin Gabriela Suter, welche die Petition lanciert hat, will nun im Aargauer Kantonsparlament Verbündete für den Baum suchen: «Es kann nicht sein, dass einfach das Recht des Stärkeren durchgesetzt wird», sagt sie.
Und falls alles nichts nützt, kann sich die Aarauerin auch vorstellen, mittels Crowdfunding Geld zu sammeln, damit der Baum umgepflanzt werden kann. Ob die Krähen dann mit ihrer Buche umziehen oder einfach auf den nächsten alten Baum im Park des Kantonsspitals flattern, bleibt offen. Vielleicht könnte die Tierkommunikatorin darüber ja nochmals mit den Krähen sprechen.