Lothar M.* (48) stellt seine Gedanken zu Gott und Glauben gern ins Internet. «Gute Taten allein bringen niemanden in den Himmel. Und schlechte allein niemanden in die Hölle. Deshalb hat auch der schlechteste Mensch eine Chance, in den Himmel zu kommen», schrieb er 2006.
Gestern wurde der reformierte Pfarrer von Thalheim AG von seinen Amtspflichten entbunden.
Die Vorwürfe gegen den geschiedenen Geistlichen wiegen schwer. Er soll seine Tochter Klara* (heute 22) zwölf Jahre lang sexuell missbraucht haben. Die Anklägerin beantragt fünfeinhalb Jahre Gefängnis. Der Prozess beginnt am 17. Juni vor dem Bezirksgericht Zofingen. Der Pfarrer, geboren in Bamberg (D), bestreitet alle Vorwürfe, er sei absolut unschuldig.
Laut Anklageschrift war die Tochter erst zweieinhalb, als der sexuelle Missbrauch begonnen habe.
Mit vier Jahren habe das Mädchen den Vater im Kinderzimmer erstmalig oral befriedigen müssen.
Mit siebeneinhalb Jahren sei die Tochter vom Vater auf einer Wiese an einem See im Allgäu (D) entjungfert worden. Mehrfach habe er an jenem Nachmittag Geschlechtsverkehr mit dem Kind gehabt.
Danach habe er ihr eingetrichtert, dass das alles ein Geheimnis bleiben müsse und er «dies alles mit ihr machen würde, weil er sie ganz fest gern habe».
Insgesamt soll es bis zu 50 Mal zum Geschlechtsverkehr gekommen sein, rund 200 Mal zum Oralverkehr.
Die sexuellen Übergriffe hätten überwiegend im Kinderzimmer beim Zubettbringen stattgefunden, meist «bei Abwesenheit der Mutter».
Nach der Trennung der Eltern habe Lothar M. ab Oktober 2001 die damals 13-Jährige an Besuchswochenenden mehrfach vergewaltigt. «Der Angeklagte verwendete dabei jeweils Kondome», so die Anklage. Der letzte sexuelle Übergriff habe sich im März 2003 bei Bekannten in Biel ereignet – da war die Tochter 15.
Warum das Mädchen erst fünf Jahre später, Ende März 2008, zur Polizei ging, ist bislang offen. Wenig später wird der Pfarrer in U-Haft genommen, ist nach drei Tagen aber wieder frei.
Jetzt, weitere zwei Jahre später, die Anklage. Stimmt die Geschichte der Tochter, oder könnte es sich auch um einen Racheakt handeln?
Die Kirchengemeinde in Thalheim war frühzeitig über die Vorwürfe informiert, unternahm aber nichts. «Ja, wir haben alles gewusst. Aber es stand ja Aussage gegen Aussage», sagt Roland Frauchiger (50), Präsident der Thalheimer Kirchengemeinde. Ausserdem habe die Gemeinde «Massnahmen» getroffen. «Herr M. durfte nicht mehr allein mit weiblichen Jugendlichen sein.»
Die Kirchengemeinde habe gehofft, dass es nicht zur Anklage komme, deshalb auch nicht den Kirchenrat informiert.
Der weiss erst seit letztem Donnerstag davon. «Das ist schon etwas zu spät», so Frank Worbs, Sprecher der reformierten Landeskirche Aargau.
Gestern Abend suspendierte der Kirchenrat Pfarrer M. von seinen Ämtern – «bis die Vorwürfe abgeklärt sind», so Frank Worbs.
Ausserdem leite der Kirchenrat ein Disziplinarverfahren gegen den Pfarrer ein. «Wenn das Bezirksgericht die Anklagepunkte beurteilt hat, wird der Kirchenrat die Auswirkungen auf die pfarramtliche Tätigkeit beraten.»
Im Dezember 2007 schilderte Lothar M. seinen Werdegang in einem Interview: Er habe Pfarrämter innegehabt, bei Hilfswerken und als Korrektor beim «Zofinger Tagblatt» gearbeitet. «Vor zwei Jahren wurde meine Ehe geschieden. Jetzt fühle ich mich bereit, wieder als Pfarrer zu wirken.»
Drei Monate später zeigte seine Tochter ihn an.
* Name der Redaktion bekannt