Der rote Volvo S40 steht vor dem Polizeikommando Aargau. 130 000 Kilometer hat er auf dem Tacho. Er ist das Dienstfahrzeug von Urs Winzenried (64). Taucht der Volvo auf, wissen die Polizisten: Der Chef Kripo kommt. «Soviel ich weiss, habe ich keinen Spitznamen», sagt Winzenried. Er sei einfach der Chef Kripo. Ende April geht er in Pension – nach 35 Jahren im Dienst.
Winzenried stellt sich neben den Volvo, in seinem Inspektor-Columbo-Mantel, und gesteht: «Ich wurde auch schon geblitzt – aber immer im Ordnungsbussenbereich.» Bald gibt er den Wagen ab, lässt die Kollegen zurück. Wehmut? «Ich kann es nicht sagen. Ich bin nicht der Gefühlsmensch.»
Winzenried war Anwalt bei einer Grossbank und kam im April 1979 als Quereinsteiger zur Kantonspolizei Aargau. Am ersten Arbeitstag sah er die erste Leiche. «Ein Tötungsdelikt. Wir feierten daheim im kleinen Kreis meinen ersten Arbeitstag. Da klingelte das Telefon.» Grundsätzlich Zweifel an seinem Job habe er nie gehabt. Aber: «Im ersten Moment dachte ich schon, worauf hast du dich da eingelassen?»
Bis heute habe er 300 Leichen gesehen, schätzt er. Opfer von Verbrechen, ausserordentliche Todesfälle, Selbstmörder.
In seinem Büro im Aarauer Quartier Telli hängt eine Karte des Kantons. 150 Tötungsdelikte sind darauf eingetragen. Darunter etliche aufsehenerregende Mordfälle. Die gelösten Fälle hat er mit blauen Knöpfen markieret. Die ungelösten sind rot. Es sind gerade mal neun. Kommt er trotz dieser Rätselmorde zur Ruhe? «Ja, wir haben gemacht, was wir konnten», sagt Winzenried. Er legt einen dicken Ordner auf den Tisch: «Das hier ist mein Vermächtnis an meinen Nachfolger.»
60 ausgewählte Mordfälle, fein säuberlich abgeheftet, inklusive Fotos der Tatorte. Es ist ein Ordner des Schreckens, ein Stück Aargauer Kriminalgeschichte. Er blättert darin, sagt: «Der hier ist ein ganz schöner.» Ein schöner Fall heisst: dank Ermittlungen gelöst. Nicht dank Glück.
Die hohe Aufklärungsquote, aber auch die offensive Informationspolitik machten Winzenried zu einem der bekanntesten Kripo-Chefs der Schweiz.
Abschalten konnte er stets bei der Familie, beim Joggen, Velofahren oder Schwimmen. Oder beim Musizieren. Der Kripo-Chef ist begeisterter Fagottspieler. Ferien macht er am liebsten in Ägypten – und zwar im Frühling oder Herbst. Einen Reisewunsch aber hat er noch: «Eine Fahrt durch die USA, mit dem Camper. Davon muss ich allerdings zuerst noch meine Frau überzeugen.»
Er liest zwar gern, aber nicht unbedingt Krimis. «Ab und zu mal einen von Donna Leon, Commissario Brunetti gefällt mir. Aber ich habe im Alltag schon Krimi genug.» Wenn er Ende Monat sein Büro räumt, nimmt er nicht viel mit. «Nur diesen Fisch», sagt Urs Winzenried. Der Riesenhecht ist das Geschenk eines Politikers. «Dafür, dass ich nur grosse Fische fange.» Von denen brachte er einige hinter Gitter.
So viele Verbrechen hat Winzenried gesehen, so viel Leid. «Ich kann zum Glück alles gut verarbeiten», sagt er, und nein, weinen habe er nie müssen. «Vielleicht wäre es gut, ich könnte Ja sagen, aber nein.»