Darum gehts
- Vater wegen versuchter Tötung und Kindesmisshandlung vor Gericht
- Beschuldigter erklärt Verletzungen, zeigt aber keine echte Reue
- Staatsanwaltschaft fordert fast 19 Jahre Haft für den Familienvater
Der Rechtsmediziner zappt durch Powerpoint-Folien. Ein Querschnitt des Schädels, eine Grafik des Kleinhirns, Zeichnungen, Pfeile, Fachbegriffe. Seine Stimme ist unaufgeregt, als er über die Verletzungen spricht. Auf einer Folie bleibt er stehen. Unterschiedliche Knochen, sorgfältig aufgelistet. Ich lese sie durch, ordne sie den Körperteilen zu. Und erst da dämmert mir, mit was für einem Fall wir es zu tun haben.
Es geht um Kindesmissbrauch – das wusste ich bereits. Und auch, dass das Opfer ein Baby war, es heute mit schwersten Behinderungen lebt. Weil es im Oktober 2022 von seinem Vater mehrmals ruckartig in die Matratze gedrückt wurde, dabei Verletzungen am Kopf erlitt.
Am Montag muss sich Fabian P.* (41) also vor dem Bezirksgericht Brugg AG verantworten. Ihm wird versuchte, vorsätzliche Tötung vorgeworfen, im Zusammenhang mit dem Vorfall im Oktober. Ausserdem ist er wegen einer schweren und mehrfacher leichter Körperverletzungen angeklagt.
Fabian P. passt in kein Muster
Hier geht es um die Knochenbrüche, die er seinem Kind in den zwei Monaten vor der versuchten Tötung angetan haben soll. Diese Brüche, an jedem einzelnen Körperteil des Babys, schockieren mich. Unvorstellbar, wie sehr es leiden musste: gebrochene Rippen, Unterarme, Hand- und Fussknochen, Schienbeine. Blutungen im Gehirn und beiden Augen. Der Vater soll dem Gericht erklären, wie die Verletzungen zustande gekommen sind.
Die meisten Beschuldigten lassen sich in zwei Kategorien einteilen: Diejenigen, die ihre Taten gestehen und erklären wollen. Und diejenigen, die alles abstreiten, sich als Opfer der Ermittler sehen. Fabian P. ist keines von beidem – oder beides gleichzeitig.
Situationen für Kamera nachgespielt
Er beschreibt mehrere Situationen, in denen er sein Baby verletzt haben könnte, rekonstruierte sein Vorgehen gar vor der Kamera. Gleichzeitig betont der Vater, er habe seine Kraft stets zurückgehalten. «Ich kann mir nicht vorstellen, ihm so die Knochen gebrochen zu haben», sagt der Angeklagte während der Befragung.
Die Knochenbrüche – demnach ein Versehen. Das glaube ich ihm nicht. In meinem Kopf schwirren noch die Worte des Rechtsmediziners, der als Zeuge aufgetreten war: «Ich habe Kleinkinder gesehen, die von einem LKW überfahren wurden und sich nichts gebrochen haben», hatte dieser ausgesagt und erklärt, dass die Knochen von Kleinkindern sehr biegsam seien. Ein gewaltsames Biegen beziehungsweise Rotierens eines Knochens sei nötig, um ihn zu brechen.
«Das ist nur ein Prozent von mir»
Auch die Richter scheinen von den Aussagen des Beschuldigten nicht überzeugt. Der Gerichtspräsident weist auf Widersprüche hin. Fabian P. findet keine schlüssigen Erklärungen.
«Ich bin gerne Vater. Diese Situationen, in denen ich mein Kind verletzt haben soll, sind nur ein Prozent von mir», beteuert er, kann die Tränen nicht zurückhalten. Er sei überfordert gewesen, erschöpft, räumt Fabian P. ein. «Manchmal wurde ich wütend. Aber nie auf das Kind!»
Eltern, die ihre Kinder schlagen, handeln oft aus Überforderung. Ich habe während früheren Recherchen mit einigen solchen Müttern und Vätern gesprochen. Sie erzählen von Scham und Selbsthass. Gefühle, die Fabian P. nicht beschreiben kann. Was in ihm vorgegangen ist, als er diese «Aussetzer» hatte, kann er nicht erklären.
Fabian P. kümmert sich weiterhin um Kinder
Die Staatsanwaltschaft fordert für den Familienvater eine Haftstrafe von fast 19 Jahren. Aktuell lebt Fabian P. zu Hause, kümmert sich mit seiner Frau Eliane P. um das ältere gemeinsame Kind. Das Jüngere wird in einer Einrichtung betreut. «Ich besuche es dreimal pro Woche», so der Vater.
Auch Eliane P. muss sich die Tage vor Gericht verantworten. Einerseits habe sie ihre elterlichen Pflichten verletzt, als sie die Verletzungen ihres Babys nicht bemerkt habe. Ausserdem werden ihr und Fabian P. sexuelle Handlungen mit dem älteren Geschwister vorgeworfen, das mittlerweile ein Kind im Primarschulalter ist. Die Mutter soll am Dienstag befragt werden.
Knapp neun Stunden dauert der erste Prozesstag. Fabian P. weint viel. Sein Leid wirkt ehrlich. Er spricht davon, sich falsch verhalten zu haben, doch ohne Reue zu zeigen. Die Knochenbrüche will er seinem Kind nicht zugefügt haben.
*Namen geändert