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Medizinethikerin Tanja Krones über Spitäler-Kollaps und das ethische Dilemma
«Alters-Rationierung ist in der Schweiz nicht tragbar»

Die Medizinethikerin Tanja Krones vom Universitätsspital Zürich über die schwierige Frage, wer noch ins Spital darf, wenn die Betten nicht mehr reichen.
Publiziert: 19.03.2020 um 22:26 Uhr
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Aktualisiert: 20.03.2020 um 14:27 Uhr
Medizinethikerin Tanja Krones hofft, dass es gar nicht erst zur Überlastung kommt.
Foto: Nicolas Zonvi
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Interview: Fabienne Kinzelmann

Überlastete Spitäler. Fehlende Beatmungsgeräte. Ärzte in Quarantäne. Und die Frage: Wer wird behandelt, wenn die Betten schon voll sind? Mit jedem schwer verlaufenden Corona-Fall wird die Aufgabe von Tanja Krones (50) wichtiger – sie ist dabei, wenn es hart auf hart kommt. Die Medizinerin leitet das Klinische Ethikkomitee am Universitätsspital Zürich. In diesen Tagen bereitet sie sich auf den Ernstfall vor.

BLICK: Frau Krones, mussten Sie schon über Leben und Tod entscheiden?
Tanja Krones: Wir haben noch die Ruhe vor dem Sturm. Ich als Ethikerin im Spital unterstütze die Behandlungsteams, die gemeinsam im Team mit Patient und Angehörigen schon immer solche Entscheide treffen. Gerade schauen wir national, dass wir vernünftig reagieren und zunächst die gleichen Dringlichkeits-Kriterien anwenden wie sonst auch (siehe Box).

Was ist Ihre grösste Sorge?
Wir müssen aufpassen, dass wir nicht lokal unterschiedlich harte Kriterien anwenden. Das könnte gegen die Verfassung verstossen und strafbar sein. Dass ein einzelnes Spital oder eine Station etwa sagt: Bei uns kommen keine Über-60-Jährigen mehr rein.

Wer entscheidet über die Einteilung von Verletzten und Kranken?
Das Wichtigste ist, diese Triage zu verhindern. Aber wenn es doch dazu kommt, muss sie einheitlich sein. Das ist ein schweizweiter Prozess, in dem wir uns mit dem Bundesamt für Gesundheit gemeinsam auf Strategien und Kriterien einigen.

In Norditalien ist der Ausnahmezustand bereits Realität, die Spitäler sind völlig am Anschlag. Die italienischen Richtlinien sagen: Denkbar ist, auch das Alter allein als Kriterium zu nehmen.
Eine derart harte Alters-Rationierung ist in der Schweiz sicher nicht tragbar. Es ist für alle wichtiger, zu wissen, was die Patienten selbst wollen. Sie zu fragen «Was ist Ihnen wichtig, was darf Ihnen nicht passieren?» ist eine viel wichtigere Botschaft als auf eine harte Triage zu schauen wie ein Kaninchen auf die Schlange.

Was nützt das?
Es gibt durchaus sehr viele hochbetagte Menschen, die gar nicht ins Spital oder auf die Intensivstation wollen. Wenn man das aber nicht weiss kann das ein wesentlicher Grund für einen Versorgungs-Engpass sein. Wir haben exzellente Palliativpflege-Teams, die wir auch in Pflegeheimen einsetzen können. Diese können es auch bewältigen, wenn ein Patient mit einem Herzinfarkt oder einer Lungenentzündung lieber zuhause oder im Pflegeheim bleiben möchte.

Drängt man Alte und Kranke mit einer solchen Frage nicht zum Behandlungsverzicht?
Nicht, wenn man es richtig macht. Wichtig ist, dass man den Patienten als Menschen ernst nimmt und ihm diese Fragen stellt: Wie gern leben Sie, was hält Sie am Leben? Wie wäre es, wenn Sie heute Nacht friedlich einschlafen? Was bedeutet das für Sie? Wenn man das so fragt, dann kriegt man wirklich fundierte Antworten. Meine Erfahrung zeigt: Kaum ein Schwerstkranker – ob alt oder jung – will auf der Intensivstation versterben.

Aber ist denn das Leben in so einer Situation von allen Patienten gleich viel wert?
Selbstverständlich. Das steht auch so in der Verfassung. Das Dilemma ist, dass es bei zunehmender Knappheit so ist, dass man, wenn man möglichst viele Menschen retten will, nicht jedes Leben retten kann.

Dann müssen Sie doch wissen, was im Ernstfall zu tun ist.
Entschieden wird dann von den richtigen Leuten: den erfahrenen Behandlungsteams gemeinsam mit den Patienten und Angehörigen nach schweizweiten, transparenten Kriterien. Dazu werden ergänzend zu den bereits bestehenden Kriterien in Kürze verfeinerte Kriterien veröffentlicht.

Halten Sie es für realistisch, dass es in der Schweiz zu einem Szenario kommen könnte, in dem entschieden wird, ob man mich, einen 60-jährigen Arzt oder eine 35-jährige Mutter mit zwei Kindern zuerst behandelt?
Soziale Kriterien wie Beruf oder Famileneinbindung sollte man nicht diskutieren. Wir versuchen alles, um die maximale Auslastung der Betten zu verhindern. Dazu gehört auch, zu wissen, wo freie Betten sind. Wenn wir also lokal viele Patienten haben, dass wir die auch überregional verteilen können.

Daniel Koch vom Bundesamt für Gesundheit rechnet offenbar mit einem schweizweiten Versorgungsengpass. Wie schätzen Sie das Risiko ein?
Er ist möglich. Wir unternehmen alle Anstrengungen, um ihn zu verhindern. Wichtig ist, dass wir unsere Routinen bei Entscheidungsprozessen in jeder Situation weitest möglich aufrechterhalten. Und die ganze Kriegsrhetorik ein bisschen runterfahren und betonen: Die Patienten-Autonomie ist immer noch wichtig. Wir müssen auch in diesen Zeiten Professionalität, Transparenz und kurze Wege bewahren. Und Ärzte wie Pflegekräfte müssen moralische Bedenken äussern können.

Kann man noch irgendwas tun, um eine Katastrophe wie etwa in Bergamo zu verhindern?
Ja. Auch da können wir von den Ratschlägen unserer italienischen Kollegen lernen: Wir dürfen nicht nur auf COVID-19-Patienten schauen – sondern müssen auch aufpassen, dass wir etwa Herzinfarktpatienten ebenso intensiv beobachten und behandeln. Die Versorgungsketten müssen auch bei anderen medizinischen Dringlichkeiten funktionieren.

Was gilt in der Schweiz?

Alter, Geschlecht oder Wohnkanton – all diese Dinge dürfen in der Schweiz keine Rolle spielen, wenn die Behandlungskapazitäten nicht ausreichen. Ebenso wenig etwa darf bei der Behandlung nach Religion, Versicherungsstatus oder wegen einer Behinderung diskriminiert werden. Nachzulesen sind diese Kriterien von 2013 bei der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW). In einer Katastrophensituation haben diejenigen Patienten höchste Priorität, deren Heilungschancen mit einer Intensivbehandlung gut, ohne diese aber ungünstig sind.

Alter, Geschlecht oder Wohnkanton – all diese Dinge dürfen in der Schweiz keine Rolle spielen, wenn die Behandlungskapazitäten nicht ausreichen. Ebenso wenig etwa darf bei der Behandlung nach Religion, Versicherungsstatus oder wegen einer Behinderung diskriminiert werden. Nachzulesen sind diese Kriterien von 2013 bei der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW). In einer Katastrophensituation haben diejenigen Patienten höchste Priorität, deren Heilungschancen mit einer Intensivbehandlung gut, ohne diese aber ungünstig sind.

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