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Livio ist acht Jahre alt und hat Krebs
Wie viel darf seine Behandlung kosten?

Der Gesundheitstarif Tarmed definiert auf die Minute genau, was Ärzte mit Kassen abrechnen dürfen. Dass kranke Kinder oft mehr Zuwendung brauchen, kommt im Tarif nicht vor.
Publiziert: 04.08.2019 um 00:07 Uhr
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«Kinder sind nicht einfach kleine Erwachsene», sagt Alexandra Schifferli.
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Danny Schlumpf

Was Alexandra Schifferli (41) sagt, ist längst Allgemeinwissen: «Kinder sind nicht einfach kleine Erwachsene!» Umso mehr wundert sich die Spezialärztin für Onkologie und Hämatologie am Universitäts-Kinderspital beider Basel: «Der Ärztetarif Tarmed macht keinen Unterschied zwischen Kinder- und Erwachsenenmedizin.» Anhand eines Falls aus diesen Tagen zeigt die Ärztin gegenüber SonntagsBlick auf, welche Folgen das für die Behandlung ihrer kleinen Patienten hat.

An einem Dienstag Ende Juli wird der achtjährige Livio von seiner Mutter in die Notaufnahme des Kinderspitals Basel gebracht. Der Junge hat eine starke Schwellung am Oberarm. Eine Pflegerin, ein Oberarzt und ein Assistenzarzt führen die Erstkonsultation durch. «Im ersten Gespräch geht es nicht nur um die Frage, was das Kind hat», erklärt Schifferli. «Es geht auch darum, Kontakt mit dem Kind aufzunehmen, die Familie kennenzulernen und Vertrauen zu schaffen – nicht zuletzt bei den verunsicherten Eltern.»

Zeit für Gespräche mit Mutter und Livio

Noch am selben Morgen wird Livio auf die Ultraschall-Untersuchung vorbereitet. Der Radiologe nimmt ihn in Empfang. Er muss den Jungen vorsichtig an die Prozedur heranführen und ihm das Gerät spielerisch erklären. Da ist Einfühlungsvermögen gefragt. Vor allem braucht es Zeit: Mehr als drei Stunden vergehen, bis die Untersuchung abgeschlossen ist.

Danach spricht der Oberarzt mit dem Radiologen und setzt sich erneut mit Livio und seiner Mutter zusammen. Am Nachmittag führt er Gespräche mit Onkologin Schifferli und einem spezialisierten Orthopäden.

Gegen Abend formulieren die Ärzte ihre Beurteilung. Noch einmal nimmt sich der Oberarzt eine halbe Stunde Zeit, um Livio und seiner Mutter zu erklären: Weitere Untersuchungen sind nötig, um die Schwellung am Oberarm korrekt zu diagnostizieren und die passende Therapieform zu wählen.

Livio hat einen bösartigen Tumor im Oberarm

Die richtige Behandlung ist das eine. Aber wie viel darf sie kosten? Die Antwort, die der Ärzte­tarif Tarmed auf diese Frage gibt: Weniger, als notwendig ist.

Das zeigt sich schon, als Livios erster Tag im Kinderspital zu Ende geht: Die Ärzte dürfen zwar dreissig Minuten des Konsulta­tionsgesprächs und die Ultraschalluntersuchung abrechnen. Nicht abrechnen dürfen sie alle weiteren Gespräche mit dem Kind und seiner Mutter an diesem Tag. Auch die Besprechungen des Oberarztes mit dem Radiologen, dem Onkologen und dem Orthopäden dürfen sie der Krankenkasse nicht in Rechnung stellen.
Keine der ärztlichen Leistungen, die an diesem Nachmittag für Livio erbracht wurden, ist finanziell gedeckt – ihr personeller, zeitlicher und technischer Aufwand überschreitet die Tarmed-Bestimmungen. «Das ist bei uns der Normalfall», sagt Alexandra Schifferli. «Es ist unmöglich, diese Vorgaben einzuhalten.»

Dann stellt sich heraus: Livio hat Krebs. In seinem Oberarm wuchert ein bösartiger Tumor. Zu dieser Diagnose gelangten die Ärzte, indem sie den Jungen im Computertomografen durchleuchteten und eine Gewebeprobe nahmen. Doch auch die Kosten für MRI und Biopsie sind vom Tarmed nicht gedeckt – Komplexität und Aufwand übersteigen die tariflichen Vorgaben.

Tarmed-Vorgaben regelmässig überschritten

Für das Aufklärungsgespräch, das die Ärzte anschliessend mit Livio und seiner Mutter führen, gilt dasselbe. Eine Stunde nehmen sie sich Zeit, um den beiden die niederschmetternde Diagnose mitzuteilen, sie psychisch aufzufangen und die nächsten Schritte zu besprechen.

Zu lange.

Gemäss Tarmed muss das in ­einer halben Stunde erledigt sein. Was darüber hinausgeht, kann nicht abgerechnet werden. Ebenso wenig wie sämtliche Telefonate und Gespräche, die Alexandra Schifferle in Livios Fall führen muss. Die Tarmed-Vorschriften über Leistungen in Abwesenheit des Patienten lassen es nicht zu.

«Das Problem ist, dass das täglich so abläuft», sagt die Onkologin resigniert. Zwar sei kein Fall wie der andere. «Aber wir überschreiten die Tarmed-Vorgaben regelmässig. Wir arbeiten im Grunde ununterbrochen defizitär.»
Livio hat eine intensive Chemotherapie vor sich. Sie wird länger dauern als ein Jahr. Die Chancen, dass er den Krebs besiegt, stehen gut.

Aber wie steht es mit den Kosten? Gibt es irgendeine Phase im Therapieverlauf, die kostendeckend ist? Die Onkologin schüttelt den Kopf. Und wie lässt sich das Problem lösen?

Alexandra Schifferli: «Es gibt nur eine Lösung: Getrennte Tarife für Erwachsenen- und Kindermedizin.»

«Die heutige Finanzierung hat Mängel»

Die Kinderspitäler machen den Ärztetarif Tarmed für massive Defizite im ambulanten Bereich verantwortlich. Ist das für Sie nachvollziehbar?
Heidi Hanselmann:
Kinder­spitäler und Kinderkliniken leiden seit der Einführung von SwissDRG und den vom Bundesrat vorgenommenen Kürzungen im Tarmed-Bereich an einer systematischen Untertarifierung. Der Eingriff des Bundesrats hat die Ausgangslage für die Kinderspitäler und Kinderkliniken nachweislich verschärft, weil diese Massnahme Einnahmeausfälle verursacht hat. Dadurch resultieren Defizite.

Werden die von den Trägerkantonen lancierten Standesinitiativen eine Besserung bewirken?
Viele Kantone haben erkannt, dass die heutige Finanzierung von Kinderspitälern und Kinderkliniken Mängel hat. Deshalb versuchen sie über verschiedene Wege, daran etwas zu ändern. Es bleibt zu hoffen, dass die Initiative der Kantone Wirkung zeigt und sich an der Finanzierung von Kinderspitälern und Kinderkliniken etwas ändert. Interview: Danny Schlumpf

Heidi Hanselmann, St. Galler Regierungsrätin und Präsidentin der Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektoren.

Die Kinderspitäler machen den Ärztetarif Tarmed für massive Defizite im ambulanten Bereich verantwortlich. Ist das für Sie nachvollziehbar?
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