Trotz kräftigem Nordföhn strömen täglich Hunderte von Touristen auf die Staumauer am Eingang des Verzascatals. Früher kräuselte der Wind die Wasseroberfläche des Lago di Vogorno. Heute wirbeln die Böen mächtige Staubwolken auf. Zur abenteuerlichen Kraterlandschaft gesellt sich nun auch noch ein Wetterspektakel. Zum ersten Mal seit 56 Jahren wird der Tessiner Stausee fast komplett geleert, um die Staumauer zu sanieren. Das Projekt wird zur Touristenattraktion.
Familie Ochmann ist genau deswegen angereist. Marie-Luis (29) und Jean Ochmann (32) wohnen in Deutschland. Sie haben Jeans Eltern, Johann (58) und Gabriela Ochmann (54), in Zürich besucht. «Lasst uns einen Abstecher ins Tessin machen», so die Idee. «Wir kannten die Staumauer schon aus dem James-Bond-Film», sagt Marie-Luis Ochmann, «jetzt gibt es noch eine andere Sehenswürdigkeit.» Ochmanns sind vom Anblick begeistert.
«Es ist nicht alles Gold, was glänzt»
«Heute sind nicht so viele Gäste da», sagt Wirt Ilidio Nunes (60), «der Wind ist zu stark.» Eine halbleere Terrasse ist in diesen Tagen eher eine Ausnahme. Denn seitdem der Stausee geleert wird, klingelt es in der Kasse der Pizzeria al Lago. Nicht nur die Kraterlandschaft locke die Touristen ins Tal, sagt der Wirt und Koch, «es ist natürlich auch das tolle Wetter. Eine so lange Sonnenperiode hat es wohl seit 100 Jahren nicht mehr gegeben.»
Seit elf Jahren führt der gebürtige Portugiese das Restaurant mit Blick auf den Lago di Vogorno. «Der Winterbetrieb rentierte früher nicht wirklich», sagt Ilidio Nunes. Im Tal habe man ihn eher ausgelacht, weil er durchgehend geöffnet habe. Jetzt macht Nunes einen echten Reibach, und die geschlossene Konkurrenz guckt in die Röhre.
Kein Regen und keine Schneeschmelze
Selbst im hinteren Verzascatal bekommt man den Stausee-Hype zu spüren. Wie Ilidio Nunes hält auch Barbara Mutti (53) vom Ristorante Froda über den Winter die Stellung. Die gebürtige Italienerin, von allen im Tal «Beba» genannt, rührt kräftig in ihrem Polenta-Topf. «Wir haben nicht nur am Wochenende volles Haus, auch an jedem anderen Tag. Es ist wie im Sommer. Die Leute schauen sich den leeren Stausee an. Und da sie schon da sind, gehen sie auch im Tal etwas essen», sagt Beba, «zu unserem Glück haben nur zwei Lokale im Winter auf.»
Ilidio und Beba hoffen, dass die neue Hochsaison in der Grossgemeinde Verzasca anhält. Gemeindepräsident Ivo Bordoli (67) hat gute Nachrichten. «Die Sanierungsarbeiten der Staumauer haben gerade erst begonnen», sagt der Tessiner, «sie werden sicherlich bis Ostern anhalten.» So lange bleibt der Stausee leer.
«Wir hatten keinen Schnee auf den Bergen, und seit Wochen regnet es nicht mehr», sagt Ivo Bordoli, «es fehlt das Wasser der Schmelz, und wenn es nicht bald regnet, dann wird es noch lange dauern, eh der Lago wieder ein echter See ist.» Ivo Bordoli wiegt schätzend den Kopf. «Vielleicht bleibt die Kraterlandschaft sogar bis zum Sommer», sagt er. Dann geht die eine Hochsaison nahtlos in die andere über.