Herr Professor Vogt, Sie sind Herzchirurg. Wie viele Herzzentren braucht die Schweiz, und wo?
Paul R. Vogt: Das weiss niemand genau. Es gibt verschiedene Pläne und Absichten. Aber es werden wohl alle an den Egoismen einzelner Ärzte scheitern. Sicher ist, die Schweiz ist zu klein und hat zu wenig Fälle, um international quantitativ konkurrenzfähig zu sein. Die Schweiz muss qualitativ konkurrenzfähig sein.
Das sind Prestigeüberlegungen. Müsste nicht das Wohl der Patienten im Mittelpunkt stehen?
Natürlich. Die Aufgabe aller Beteiligten im Gesundheitswesen wäre, dafür zu schauen, dass für die Patienten gute Qualität zu einem guten Preis machbar ist.
Ist das jetzt nicht der Fall?
Es gibt keinerlei Qualitätskontrolle für medizinische Leistungen. Alle behaupten, das Schweizer Gesundheitswesen sei weltweite Spitze – aber niemand kann das belegen, weil es keine objektiven Zahlen gibt.
Könnte man mit einer Qualitätskontrolle eine Art «Gault-Millau»-Führer für Spitäler machen, eine Rangliste, aus der die Patienten aussuchen können?
Das würde die Patienten überfordern. Sie sollen sich nicht darum kümmern müssen, wo sie die beste medizinische Leistung erhalten, indem sie Kliniken abklappern, um nichtssagende Prozentzahlen zu vergleichen, die am Spitaleingang ausgehängt werden. Sie müssen sich darauf verlassen können, in jedem Spital der Schweiz und bei jedem Arzt die für sie beste und angemessenste Behandlung zu erhalten.
Wer soll denn die Ergebnisse der Qualitätskontrolle sehen, wenn nicht der Patient?
Die Spitäler selber, die Gesundheitsdirektionen und natürlich die Fachgesellschaften. Sie müssen bei schlechten Resultaten eingreifen. Das kann man nicht den Patienten aufbürden.
Ab heute werden in den Schweizer Spitälern Fallpauschalen abgerechnet. Was ändert sich für den Patienten?
Schwer kranke Patienten mit komplizierten Therapien werden für Kliniken unattraktiv. Das System wird versuchen, solche Patienten auszugliedern. Die Spitäler werden einfach zu behandelnde Zusatzversicherte wollen, mit denen sie einen relativ hohen Gewinn erzielen. Das wird Druck auf die Ärzte geben, attraktive Patienten ins Spital zu ziehen.
Wo steckt der Spareffekt?
Nirgends. Der Patient wird eine Art Werkstück, aus dem man durch geschicktes Codieren, Anpassen der Spitalaufenthaltsdauer und zusätzliche Massnahmen, ob nötig oder nicht, das Maximum an Profit herausholt. Die Kosten des Gesundheitswesens werden also weiter steigen. Wahrscheinlich drei bis fünf Prozent – allein wegen der Fallpauschale.
Also wieder nichts mit günstiger. Was tun?
Will man wissen, wie man die Kosten in den Griff bekommt, muss man wissen, wie viel von den 65 Milliarden Franken Gesundheitskosten für medizinische Leistungen draufgeht und wie viel für die Administration.
Darüber reden Politiker schon seit Jahren.
Es braucht einen runden Tisch mit Leuten, die wirklich mit Patienten zu tun haben, die ohne eigene Interessen darüber diskutieren, wie man die Qualität halten, aber die Kosten senken kann.
Wie kann das funktionieren?
Indem man alte Zöpfe abschneidet. Beispiel: Es heisst, wir werden immer älter, darum wird das Gesundheitswesen immer teurer. Es ist umgekehrt: Weil wir immer mehr ins Gesundheitswesen investieren, werden wir immer älter. Die Gesundheitskosten sind die Ursache, nicht die Folge einer Entwicklung. Und die Ursache können wir beeinflussen.
Also keinen Bypass mehr für einen 80-jährigen übergewichtigen Raucher?
Nicht unbedingt. Das hiesse, dem Patienten die Schuld zu geben, dass er raucht und zu viel isst. Im Gesundheitswesen sind Schuldzuweisungen aber nicht möglich. Mit ethisch-moralischen Kriterien kann man die Gesundheitskosten nicht senken.
Glauben Sie wirklich, dass das Schweizer Gesundheitswesen günstiger werden könnte?
Ja klar. Nach vielen Diskussionen mit Berufskollegen und Gesundheitspolitikern gehe ich davon aus, dass 10 Milliarden Franken gespart werden könnten.
Wie denn? Konkrete Beispiele bitte!
Jeder Spitalpatient, der normal essen kann, soll für seine Mahlzeiten bezahlen. Wenn er zu Hause wäre, müsste er sein Essen auch kaufen. Damit wird zwar direkt nicht viel gespart, aber die Patienten gehen früher nach Hause, weil ein Komfortfaktor wegfällt. Das ist der Spareffekt.
Das wären ja Verhältnisse wie in afrikanischen Spitälern, wo die Verwandten das Essen bringen. Weitere Vorschläge?
Jeder soll seine Krankengeschichte selbst aufbewahren. So ist der Patient für seine Daten selber verantwortlich. Das ist viel billiger als ein E-Health-System mit Gesundheitskarten, die datenschützerische Probleme aufwerfen. Sein Steuerdossier muss ja auch jeder selbst bearbeiten.
Noch etwas?
Die Krankenkassen könnten ihre Vergütungen für medizintechnisches Material an die Spitäler um 20 Prozent senken. Die Spitäler würden dann bei der Industrie Druck machen, die Preise zu senken. Und das Swiss Medical Board, ein halboffizielles Expertengremium, könnte dafür sorgen, dass höhere Preise für neu entwickeltes Operationsmaterial nur dann bezahlt werden, wenn auch ein höherer Nutzen für den Patienten bewiesen ist. Heute bekommen Medizinaltechnik- und Pharma-Industrie massiv höhere Preise ohne nachweisbaren Zusatznutzen.
Der Patient will aber immer das Neuste.
Da muss jeder Arzt seinen Patienten überzeugen. Eine neue Behandlung darf nicht teurer sein als die bisherige, solange nicht erwiesen ist, dass sie auch besser ist. Darin liegt ein gigantisches Sparpotenzial.
Wir müssen also medizinische Leistungen rationieren?
Nein, rationieren funktioniert nie. Es gibt in der Schweiz auch überhaupt keinen Grund dafür. Es gibt genügend Sparpotenzial bei medizinischen Leistungen.
Wo denn?
Qualitätskontrolle. Anfangen kann man mit invasiven Eingriffen, bei denen Ärzte, salopp gesagt, in einen Patienten schneiden oder stechen. Sie sind teuer, haben oft teure Nachbehandlungen zur Folge und können teure Komplikationen verursachen – aber sie sind nicht immer nötig. Nicht zu operieren ist billiger – vor allem, wenn gar keine Operation nötig wäre.
Ärzte und Spitäler sagen aber, Qualitätskontrollen seien viel zu kompliziert und brächten nichts.
In den USA gibt es ein Kontrollprogramm mit externen Experten, das gegen heftigen Widerstand der Ärzte und Spitaladministrationen eingeführt wurde. Aber es hat gewirkt: Schon bevor die erste Kontrolle stattfand, halbierten sich die Sterberaten und die Komplikationen, und die Aufenthaltsdauer der Patienten sank um 43 Prozent.
Würde dieses System auch in der Schweiz funktionieren?
Ich habe es der Zürcher Gesundheitsdirektion vorgeschlagen. Dort erklärte man mir, es sei interessant, aber leider habe man gerade keine Zeit, sich damit zu befassen. Ausserdem würden sich gewisse Kliniken wehren, die lieber keine Qualitätskontrolle haben als ein schlechtes Ranking zu erhalten.