Kinderarzt Markus Wopmann über Misshandlungen
«Die Schläge werden immer stärker»

1575 Fälle von Kindsmisshandlungen wurden 2016 in 21 Kliniken in der Schweiz registriert. Der Kinderarzt Markus Wopmann hat Schicksale erlebt, die ihn schwer beschäftigt haben.
Publiziert: 01.06.2017 um 17:25 Uhr
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Aktualisiert: 04.10.2018 um 19:00 Uhr
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Der Rücken eines Kindes ist übersät mit Striemen, der Abruck einer Gürtelschnalle zeichnet sich ab.
Foto: zvg
Interview: Stéphanie Jenzer

Fotos aus der Kinderklinik des Kantonsspitals Baden AG zeigen Schockierendes: Der Rücken eines Kindes ist übersät mit Striemen, der Abdruck einer Gürtelschnalle zeichnet sich ab. Das Bein eines anderen Kindes zeigt blutige Wunden, die ihm mit einem Schlagstock zugefügt wurden. Auf dem Oberschenkel eines dritten Kindes zieht sich ein Bluterguss über die Länge von elf Zentimetern.

1575 Fälle von Kindsmissbrauch wurden im Jahr 2016 in den 21 Schweizer Kliniken registriert. Walter Wopmann ist Chefarzt der Kinderklinik am Kantonsspital Baden AG. Er hat bereits diverse solcher Fälle hautnah mitbekommen.

BLICK: Was lösen Kindsmisshandlungen bei Ihnen aus?
Markus Wopmann: 
Solche Fälle bleiben mir oft auch privat lange präsent und beschäftigen mich stark.

80 Prozent der Misshandlungen passieren innerhalb der Familie. Wie kann es so weit kommen, dass Eltern ihr eigenes Kind misshandeln?
Kindsmisshandlungen haben meistens mit Überforderung der Eltern zu tun. Wenn Kinder grösser sind, stehen Eltern oft mit dem Instrumentarium der Kindererziehung an. Viele Erwachsene wurden früher selbst geschlagen und haben so quasi gelernt, dass Gewalt dazugehört. Das Problem aber ist, dass Schläge sehr schnell an Wirkung verlieren. Ihre Intensität muss immer mehr gesteigert werden. Körperliche Gewalt – die übrigens absolut keinen erzieherischen Effekt hat – ist vor allem in sozial schwachen Schichten stark übervertreten.

In rund einem Drittel der Fälle wurde das Kind psychisch misshandelt. Wie erkennen Sie das als Arzt?
Von psychischer Misshandlung spricht man, wenn Kinder Gewalt angedroht wird oder sie solche hautnah miterleben. Zum Beispiel, wenn sich Eltern streiten oder körperlich angreifen. Wenn die Polizei heute zu einem Einsatz wegen häuslicher Gewalt gerufen wird und in derselben Familie auch Kinder involviert sind, werden neu Kliniken automatisch eingeschaltet. 

Wenn wir von Misshandlung sprechen, denken wir aber öfter an körperliche Gewalt. Warum?
Physische Misshandlungen sind für Aussenstehende «einfacher» erkennbar. Es zeigen sich oftmals Merkmale auf der Haut, Blutungen, Hämatome, Schnittwunden. Wichtig ist auch der Ort der Verletzung. Wenn sich Kinder selbst verletzen, dann meistens an der Vorderseite des Körpers, an den Oberschenkeln oder Schienbeinen. Verletzungen am Bauch oder auf der Hinterseite der Oberschenkel sind sehr ungewöhnlich und müssen die Alarmglocken schrillen lassen. Dasselbe gilt für Verbrühungen und Verbrennungen.

Können Sie einen Fall nennen, der Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?
Die besonders schwerwiegenden Fälle bleiben einem natürlich am meisten. Ich habe einen Buben behandelt, der sexuell missbraucht wurde. Dabei habe ich auch kinderpornografische Bilder von ihm gesehen, die mir deutlich machten, in welch schlimmen pädophilen Kreisen das Kind hier verwickelt war.

Wenn man als Elternteil das Gefühl hat, kurz davor zu stehen zuzuschlagen, welche Tipps haben Sie?
Am besten läuft man in solch einem Fall gleich aus dem Zimmer. Räumliche Trennung schafft Abstand. Kommt man häufiger an diesen Punkt, sollten Jugend- und Familienberatungen aufgesucht oder der Kinderarzt kontaktiert werden. Diese Stellen können helfen.

Wo finde ich diese Anlaufstellen? 
Die Beratungsstellen sind jeweils kantonal geregelt. Online unter www.elternnotruf.ch finden Sie Hilfe. Eltern können sich aber auch per Telefon an die Dargebotene Hand unter der Nummer 143 wenden.

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