Jetzt nur nicht nachlassen
Experten warnen vor Disziplin-Mangel wegen Corona

Die Fallzahlen steigen, doch Corona-Müdigkeit macht sich breit. Woran liegt das? Und: Wie lernen wir umdenken? Psychologen geben Antwort.
Publiziert: 10.10.2020 um 23:54 Uhr
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Aktualisiert: 13.10.2020 um 14:39 Uhr
Immer mehr Menschen zeigen sich corona-müde.
Foto: Keystone
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Sven Ziegler

Die Situation ist an­gespannt. Am Freitag meldete das Bundesamt für Gesundheit 1487 neue Ansteckungen mit dem Coronavirus. Zwar lässt sich die Situation nicht mit dem Frühjahr ver­gleichen, da deutlich mehr getestet wird und die Dunkelziffer dementsprechend tiefer ist. Lukas Engel­berger (45), Basler Regierungsrat und Präsident der kantonalen Gesundheits­direktoren, bezeichnet die Lage gleichwohl als «in­stabil».

Man erwartet in den kommenden Wochen nicht nur einen Anstieg der Fallzahlen, auch die Hospita­lisationen dürften zunehmen. Das BAG setzt des-halb in der Schutzkam­pagne neu auf die Warn­farbe Orange.

Disziplin lässt nach

Dennoch lässt die Dis­ziplin bei Teilen der Be­völkerung nach. Martin Ackermann (49), Leiter der Co­rona-Taskforce des Bundes: «Die Leute nehmen die Pandemie nicht mehr gleich wahr wie noch im Frühling. Hygiene und ­Abstandhalten sind nicht mehr so präsent wie noch vor einigen Monaten. Es braucht ein Umdenken.»

Für Ackermann ist klar: «Wir müssen uns über­legen, was noch möglich ist. Es ist nicht der richtige Zeitpunkt, um ein privates Fest zu organisieren. Es braucht einen Ruck durch die Bevölkerung.»

Die Verhaltenspsycho­login Silvie Kraemer (41) diagnostiziert eine «Müdigkeit in der Bevölkerung». «Die Vorgaben der Regierung während des Lockdowns waren sehr streng. Viele Leute haben sich an die Massnahmen gehalten, auch aufgrund des sozialen Drucks. Mittlerweile hat sich die Situation verändert. Die Leute sind müde, dadurch rücken auch die Massnahmen etwas in den Hintergrund.»

Wirksamkeit wird infrage gestellt

Zudem werde auch die Wirksamkeit der behörd­lichen Vorgaben infrage ­gestellt. Kraemer: «Haben die Menschen das Gefühl, die Massnahmen seien effektiv, halten sie sich auch daran. Sobald dieses Gefühl abhandenkommt, werden die Leute fahrlässiger.» So auch jetzt: «Sie haben das Gefühl, dass die Massnahmen nichts nützen. Die Fallzahlen steigen, obwohl sie sich seit Monaten an die Regeln halten.»

Auch Jacqueline Frossard (62) ist Psychologin. Sie nennt einen weiteren Grund dafür, dass sich die Menschen in der Deutschschweiz mit der ­Corona-Disziplin schwertun: «Bei uns ist Corona sehr abstrakt. Wir hatten keine Bilder von vielen ­Toten wie beispielsweise in Italien. Wir sind zum Glück sehr gut davongekommen, haben aber wenig Ahnung von den schlimmen Ausmassen der Pan­demie. Das erschwert die Umsetzung der Schutzmassnahmen innerhalb der Bevölkerung zusätzlich.»

Die Debatte über die Schliessung der Ausgehlokale, so Frossard, weise auf einen Graben zwischen den Altersgruppen hin. «Die jungen Leute suchen nach ihren Lebensauf­gaben und vernetzen sich, da spielt der Club eine wichtige Rolle. Es geht am Ziel vorbei, wenn man den Jungen vorwirft, nichts Besseres als den Ausgang im Kopf zu haben. Die ältere Generation muss anerkennen, dass die Jugend­lichen auch Opfer bringen, wenn sie nicht in den Club können.»

Mehr Solidarität

Frossard plädiert dafür, dass die Generationen mehr Solidarität füreinander aufbringen.

Taskforce-Leiter Ackermann spricht davon, dass die Menschen jetzt Verzicht üben müssten. Jacqueline Frossard nennt dazu einen weiteren Aspekt. Es gebe Menschen, die sich aus gesundheit­lichen Gründen davon dispensieren lassen, eine ­Maske zu tragen. Die aber müssten nun ebenfalls Verzicht üben.

«Leute, die aus medizi­nischen Gründen keine Maske tragen dürfen, müssen sich einschränken, wenn es nicht um Grundbedürfnisse geht. Ein Konzertbesuch, ein Fussballspiel oder Shopping in ­Möbel- und Kleiderläden sind dann nicht möglich.» Andernfalls bestehe die Gefahr, dass sich Leute vermehrt medizinische ­Atteste ausstellen liessen, um die Corona-Regeln zu umgehen.

Der schwedische Möbelgigant Ikea etwa ver­weigert Personen ohne Maske den Zutritt – ärzt­liches Attest hin oder her.
Für das BAG sind neue Massnahmen derzeit keine Option. Ackermann ­appelliert an die Bevöl­kerung: «Jetzt muss ein Umdenken stattfinden.»

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