Timo* sitzt auf dem Boden und zeichnet. Neben ihm liegt ein Spitzer aus Kunststoff. Ein kurzer Augenblick der Unachtsamkeit – der Spitzer geht kaputt. Timo wird bleich, beginnt zu zittern, entschuldigt sich unzählige Male, verspricht, das Plastikteil von seinem Taschengeld zu bezahlen.
Bei einem anderen Siebenjährigen wäre diese Reaktion undenkbar. Für Kinder, die wie Timo in der Familie besonders heftige Konflikte erleben, sei sie typisch, sagt Alexandra Beyeler, Psychotherapeutin und Leiterin Gruppentherapie bei der Berner Erziehungsberatung: «Sie wissen, dass so ein Vorfall extreme Verhaltensweisen auslösen kann und Papi dann zum Beispiel das Mami schlägt, weil sie nicht aufpasst, dass das Kind nichts kaputt macht.»
Beyeler arbeitet seit 18 Jahren mit Kindern zusammen, die in Konfliktsituationen geraten. Und bietet seit kurzem im Rahmen des Projekts «Gemeinsam stark» in Bern eine psychotherapeutische Gruppe für Kinder an, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, also entweder wie in den meisten Fällen miterleben, dass die Mutter systematisch und zunehmend heftig bedroht, geschlagen, verletzt wird. Die aber auch selbst körperliche und psychische Verletzungen durch einen oder beide Elternteile erleben. Beides mit schweren Folgen: Häufig zeigen diese Kinder Verhaltensstörungen und unnatürlich grosse Ängste, wenden selbst schnell Gewalt an oder ziehen sich komplett zurück.
Häusliche Gewalt nimmt zu
Erschreckend: Fälle häuslicher Gewalt nehmen zu, wie die polizeiliche Kriminalstatistik zeigt, die diese Woche veröffentlicht wurde. Letztes Jahr waren 1562 Kinder und Jugendliche Opfer, die meisten davon nicht einmal zehn Jahre alt. 2017 gab es 1317 solche Fälle, 2009 noch 1008 – und das sind nur die offiziellen Zahlen. Denn in der Statistik taucht nur auf, was zur Anzeige gebracht wird. Die allermeisten Konflikte kommen nie ans Licht. Laut einer Studie der Schweizerischen Opferbefragung erfährt die Polizei nur von etwa einem Fünftel.
Häusliche Gewalt ist nach wie vor ein Tabuthema. Das merke man auch daran, so Alexandra Beyeler, dass viele betroffene Mütter Angst haben und sich schämen, ihre Kinder in die Gruppe «Gemeinsam stark» zu schicken, die offiziell auf häusliche Gewalt ausgerichtet ist. Zwölf Kinder seien angemeldet worden, nur drei sind jetzt Teil der Gruppe. Obwohl man davon ausgeht, dass im Kanton Bern jährlich bis zu 11'000 Kinder in der Familie schwere Konflikte erleben müssen.
Kinder in Konfliktsituationen
Schon der Begriff häusliche Gewalt an sich sei problematisch, sagt der Schweizer Psychologe Allan Guggenbühl: Gehe es explizit um häusliche Gewalt, seien Eltern meist nicht bereit, ihr Kind in eine Gruppe zu schicken. «Das Wort Gewalt ist zu sehr belastet, es wird mit einer strafbaren Handlung assoziiert, was jedoch bei den meisten schwierigen Familiensituationen nicht der Fall ist», sagt der Experte für Jugendgewalt.
Trotzdem: Auch diese Kinder brauchen Hilfe.
Derzeit entstehen deshalb gleich mehrere Projekte. Eines davon ist «Cliqcliq – Deine Geschichte zählt», entwickelt unter anderem von Guggenbühls Institut für Konfliktmanagement. Mit Geschichten von anderen Kindern, die in Konfliktsituationen leben, soll Betroffenen die Angst genommen werden, über ihre eigenen Erfahrungen zu reden.
Szenen werden nachgespielt
Das Konzept wird auch in der Gruppentherapie von Alexandra Beyeler genutzt. Dort spinnen die Kinder die Geschichte nach dem Zuhören etwa in einem Theaterstück weiter. «Dabei spielen sie automatisch Szenen nach, die sie erlebt haben, das ist sehr eindrücklich», sagt Beyeler.
Erst sechs, sieben und acht Jahre alt sind die Kleinen, die ihre Gruppe besuchen. Dennoch haben sie schon vieles durchmachen müssen: «Ein Kind hat zum Beispiel erzählt, dass es immer wieder Angst davor habe, dass der Vater die Mutter umbringt», sagt Beyeler. «Diese Kinder sind traumatisiert.»
Zur Seite steht ihnen nun auch «Jimmy», ein zotteliger Plüschhund, der immer bei den Treffen dabei ist. «Er frisst heimlich Würstli oder macht Sprüche, lockert so die Stimmung auf», sagt Beyeler, «und er ist ein wichtiger Trostspender für die Kinder.»
Fürsorge untereinander
Auch gegenseitig unterstützen sich die Kleinen: «Durch die Therapieform in der Gruppe merken sie, dass sie nicht die Einzigen sind, die zu Hause schlimme Dinge erleben.» Beyeler erzählt, wie fürsorglich die Kinder miteinander umgehen: «Schildert eines, was passiert ist, oder weint es, umarmen die anderen es ganz fest und trösten es.»
Eine halbe Stunde hat es damals gedauert, nachdem der Spitzer kaputtgegangen war, bis sich der kleine Timo beruhigt hatte. Mittlerweile sei er so weit, dass er nicht mehr in jeder brenzligen Situation so heftig reagiert, sich sogar manchmal gegen die Leiterinnen auflehnt oder spontan anfängt zu kichern.
*Name geändert