Foto: Julie de Tribolet

«Ich weiss nicht, wie wir weiterleben sollen»
Eltern kämpfen seit einem Jahr um die Organe ihres toten Babys

Sasha litt an einem schweren Herzfehler. Im Juni letzten Jahres starb er. Die Behörden ordneten daraufhin eine Autopsie an – wegen des Verdachts auf Misshandlung. Vom Vorwurf werden die Eltern freigesprochen, doch seitdem warten sie auf die Freigabe der Organe.
Publiziert: 15.05.2025 um 21:07 Uhr
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Aktualisiert: 15.05.2025 um 21:27 Uhr

Darum gehts

  • Der kleine Sasha starb an einem Herzleiden, seitdem gehen die Eltern durch die Hölle
  • Die Behörden ordnen eine Autopsie wegen des Verdachts auf Misshandlung an
  • Der Bericht entlastet die Eltern, sie warten aber seit einem Jahr auf die Freigabe der Organe ihres Sohnes
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
Alessia Barbezat

«Ich weiss nicht, wie wir weiterleben sollen. Wir gehen unter», sagt Rohic Linder (30) an der Seite seiner Lebensgefährtin Pamela Pastor (37). «Wir werden von Psychiatern betreut, bekommen Antidepressiva. Wir können nicht mehr.» An einem Mittwoch im April, in einem Café in der Nähe des Bahnhofs in Delsberg JU, versucht das Paar, nicht zu verzweifeln. Seit ihr Säugling gestorben ist, gehen Pamela und Rohic regelrecht durch die Hölle.

Ihre Geschichte beginnt im Jahr 2021. Die beiden verlieben sich ineinander. Schon bald beschliessen sie, ein Kind zu bekommen. Für den Manager eines Familienunternehmens wäre es das erste. Pamela ist bereits Mutter eines 21-jährigen Sohnes. Doch bei einem Termin beim Gynäkologen stellt die 37-Jährige fest, dass sie an einer vorzeitigen Menopause leidet. Ein Schock! Doch das Paar möchte unbedingt ein Kind, koste es, was es wolle. Dafür fliegen sie nach Barcelona, wo eine Eizellspende möglich ist. In der Schweiz ist die Behandlung verboten.

Die Eltern haben in ihrem Schlafzimmer einen Erinnerungsaltar errichtet. In Pamelas Händen befindet sich die Urne mit Sashas Asche.
Foto: Julie de Tribolet

«Es hat auf Anhieb funktioniert. Wir waren überglücklich», erinnert sich Pamela. Doch das Glück währte nicht lange. Im vierten Schwangerschaftsmonat erfuhr das Paar, dass der Fötus einen Geburtsfehler hat: eine Hypoplasie des linken Ventrikels, die die Fähigkeit des Herzens, Blut zu pumpen, stark beeinträchtigt.

Ohne chirurgische Behandlung ist die Lebenserwartung eines herzkranken Säuglings gering. Mit Eingriffen liegt die Überlebensrate bis zum fünften Lebensjahr bei 72, nach 18 Jahren bei 90 Prozent. Dem Paar wird geraten, die Schwangerschaft abzubrechen. Für den Vater undenkbar. Rohic wurde im Alter von vier Monaten aus Indien adoptiert, war schwer krank, behindert, überlebte aber trotz schlechter Prognose. «‹Ein Kind kann man sich nicht aussuchen›, haben meine Eltern immer gesagt. Ich wollte meinem Sohn die gleiche Chance geben.»

Geburt des kleinen Sasha

Sasha wurde am 20. März um 8.32 Uhr im Universitätskrankenhaus Genf (HUG) geboren. Am 25. März wurde eine chirurgische Herzoperation durchgeführt. Nach einem mehrwöchigen Spitalaufenthalt durfte der Kleine zu seinen Eltern. Bedingung: Die Eltern mussten in der Nähe des Universitätsklinikums bleiben. Das Risiko für Komplikationen war zu hoch.

Doch Pamela und Rohic konnten es sich nicht leisten, eine Wohnung in Genf zu mieten oder sich in einem Hotel einzuquartieren. Sie wenden sich an die Versicherungen, den Kanton Jura und die IV. «Niemand wollte uns helfen», bedauert Rohic. Bis dahin waren sie im Ronald McDonald's Haus in Genf untergebracht, baten nun um eine Verlängerung.

«Man hat sie uns verweigert ... Das ist ehrlich gesagt unverständlich», bedauert der 30-Jährige. Die Direktorin der Stiftung, Ilona Brunner, bestätigte auf Anfrage schriftlich: «Wir haben kein Pflegepersonal und bieten keinen medizinischen Rahmen für die Unterbringung von Patienten. Die Unterbringung bei uns endet daher am Tag der Entlassung des Patienten aus dem Krankenhaus.»

Die Familie zog daraufhin zu Pamelas Mutter in Versoix, 35 Autominuten vom Krankenhaus entfernt. «Es war grenzwertig, aber die Ärzte haben uns zugestimmt», erzählt Pamela.

Eine Vorahnung und der Beginn des Alptraums

Am Sonntag, dem 23. Juni, hatte Rohic eine Vorahnung. «Ich wollte nicht nach Delsberg zurück, aber ich musste wegen der Arbeit.» Pamela hingegen bleibt in Versoix. Am Vortag hatte der Kleine gehustet. Die Mutter hatte deshalb die Kinderärztin angerufen, sie beruhigte Pamela.

Am Abend musste sie Sasha wecken, um ihm seine Medikamente zu verabreichen. Pamelas Augen werden feucht, als davon erzählt. «Er wurde sehr wütend, fing an zu weinen und liess sich nicht beruhigen. Er war dabei zu dekompensieren. Ich weiss das, ich kenne meinen Sohn, ich weiss, wie er atmet».

Pamela hält kurz inne, um ihre Tränen zu trocknen. «Ich rief die Kardiologin an, dann die 144 und sagte, dass mein Baby herzkrank sei. Sie sagten mir, dass ich ihn sofort reanimieren müsse. Meine Mutter holte unsere Nachbarin zu Hilfe, die im Operationssaal als Assistentin arbeitet.» Sie begann mit der Wiederbelebung, bis der Krankenwagen eintraf, «aber die Sanitäter waren nicht dafür ausgebildet, einen so kleinen Patienten zu behandeln», schluchzt Pamela.

Nachdem er um sein Leben gekämpft hat, stirbt der kleine Sasha am 23. Juni 2024.
Foto: DR

Es dauerte weitere drei Minuten, bis das kantonale Sanitätskommando und die Ärzte eintrafen. Fast eine Stunde lang versuchten sie, den Säugling wiederzubeleben. Sashas winziges, krankes Herz hört um 21.37 Uhr auf zu schlagen. Um 22.55 Uhr wird er für tot erklärt. «Wir blieben bis 3 Uhr morgens bei ihm und streichelten ihm durch die Haare. Jeder im Spital kannte unseren Sasha», sagt Pamela und zeigt ein Foto auf ihrem Handy.

Das Undenkbare geschieht

Der Leichnam des Babys wurde in das Bestattungs- und Krematoriumszentrum Saint-Georges überführt, um am Freitag, dem 27. Juni, eingeäschert zu werden. Freunde, Verwandte und sogar Pfleger kamen nacheinander, um dem Kleinen die letzte Ehre zu erweisen und die trauernden Eltern zu unterstützen. Dann geschah das Undenkbare, 30 Minuten vor Schliessung des Sarges, fünf Tage nach dem Tod des Babys.

«Pamela war im Bestattungsraum, mit Sasha auf dem Arm. Ich selbst stand mit Alexis und drei Freunden vor dem Zentrum. Gleich daneben war eine weitere Versammlung», beschreibt der Vater. Bis ein Polizeikommissar hereintrat. Er sei gekommen, um den Körper Ihres Babys zu beschlagnahmen, sagte er. Die Staatsanwaltschaft habe die Sicherstellung des Körpers und die Autopsie angeordnet. Der Grund: Pamela und Rohic werden der Misshandlung beschuldigt.

Das Paar kontaktiert daraufhin das medizinische Personal des HUG, um ein Duplikat der Akte für den Staatsanwalt im Eilverfahren zu erstellen. Dafür wäre aber keine Zeit, hiess es. Die Autopsie wird am nächsten Tag um 5 Uhr morgens angeordnet. Die Eltern haben zehn Tage Zeit, um gegen die Anordnung Berufung einzulegen.

Die Urne, die die Form eines Herzens hat, enthält Sashas Asche.
Foto: Julie de Tribolet

Der Moment, als Pamela und Rohic den Körper ihres Sohnes zurückbekommen, ist traumatisch. «Sein Körper war verstümmelt, sein Schädel war nicht richtig genäht. Im Sarg befand sich Blut. Wir mussten darum bitten, den Sarg zu schliessen, da unser Kind zu verwesen begann», berichten die beiden schmerzlich.

Am Ende entlastet die Autopsie das Paar vor dem Vorwurf des Schütteltraumas. Der Alptraum ist aber noch nicht vorbei: Das Gehirn und das Herz von Sasha wurden einbehalten. Der Staatsanwalt ordnete weitere toxikologische Untersuchungen an, da er eine mögliche Übermedikation vermutet.

Unmögliche Trauerarbeit

Fast ein Jahr nach dem Tod ihres Babys tappen die Eltern immer noch im Dunkeln. Es gibt keine Neuigkeiten über die Ergebnisse der Autopsie, die gegen ihren Willen durchgeführt wurde. Sashas Organe befinden sich immer noch im Besitz des Westschweizer Universitätszentrums für Rechtsmedizin.

Heute werden Pamela und Rohic von Rechtsanwalt Vincent Maître vertreten, für den «es eine allgemeine Undurchsichtigkeit der Behörden gibt. Meine Mandanten haben immer noch keinen Zugang zu den Akten. Sie wissen nichts über die Ergebnisse der Autopsie oder darüber, was mit den Organen geschehen ist, die ihrem Baby entnommen wurden. Das ist für sie in einem so dramatischen Kontext umso unerträglicher».

Der Mangel an Taktgefühl des Kommissars sei verblüffend, sagt er: «Trauernde Eltern vor Zeugen in einem Beerdigungsinstitut der Misshandlung zu beschuldigen, ist unerhört. Die Behörden müssen sich dafür rechtfertigen.» Eine Sprecherin der Genfer Polizei teilte uns auf Anfrage mit, dass sie «keinen Kommentar» zu dem Kommissar abgeben werde.

Sashas Eltern können erst dann trauern, wenn sie die Organe ihres Babys zurückerhalten haben.
Foto: Julie de Tribolet

Maître stellt die Autopsie an sich nicht infrage, «aber man muss die Krankenakte lesen, bevor man eine solche Anordnung erlässt. Und das, obwohl es Studien gibt, die behaupten, dass schwerbehinderte Kinder anfälliger für Misshandlungen sind. Die Krankheit war jedoch bekannt, wurde überwacht und war von Geburt an lebensbedrohlich. Es ist wahrscheinlich, dass eine verhältnismässigere Entscheidung – und eine, die die Ruhe des Körpers respektiert – hätte getroffen werden können.»

Pamela und Rohic reichten Klage gegen den Polizeipräsidenten ein. Sowie gegen das Ronald McDonald's Haus, weil es ihnen trotz wiederholter Anfragen der Sozialarbeiterin und des medizinischen Personals des HUG keine Unterkunft angeboten hatte. «Unser Kleiner wäre vielleicht noch am Leben, wenn wir nicht nach Versoix hätten gehen müssen.» Auf Anfrage teilt die Genfer Staatsanwaltschaft mit, dass sie sich nicht dazu äussert, ob die bei ihr eingehenden Beschwerden registriert werden oder nicht.

Nur die Wut hilft ihnen, aufrecht zu bleiben. «Wir sind völlig erschöpft. Wir haben keinen Cent mehr, meine Firma hat unter meiner Abwesenheit gelitten», klagt Rohic, bevor er Pamela zum Schluss kommen lässt: «Und wie sollen wir trauern? Wir werden es nie tun, aber wir wollen weitermachen.»

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