Die Alpen zerbröseln. Der Permafrost – das früher dauerhafte Eis im Hochgebirge, der Leim, der Grate und Bergspitzen zusammenhält – erwärmt sich immer schneller. Seit dem Rekordsommer 2003 setzt die Hitze dem gefrorenen Gestein der Schweizer Berge zu: Die Bodentemperaturen sind so hoch wie nie.
Seit dem Jahr 2000 erlebte die Schweiz die neun wärmsten Sommer seit Messbeginn vor 150 Jahren. Auch der jetzige ist rekordverdächtig: Er könnte als einer der heissesten in die Geschichte eingehen. Im ersten Halbjahr war es vier Grad wärmer als im Durchschnitt.
Der Fels wird instabil
Im Hochgebirge taut deshalb der Boden. Weil vermehrt Regen fällt statt Schnee, sickert Wasser in Felsklüfte, der Druck im Berginnern steigt, der Fels wird instabil – und kann abbrechen. «Überall oberhalb von 2500 Metern erwärmte sich der Permafrost in den vergangenen Jahren kontinuierlich», sagt Marcia Phillips (48), Gruppenleiterin für Permafrost und Schneeklimatologie am Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) in Davos GR. «Die Folgen sieht man heute bereits mit dem Auge. Die Alpen verändern sich.»
Während das Schwinden der Gletscher offensichtlich ist, nimmt man dieses Bröckeln eher lokal wahr: abbrechende Felswände, instabile Grate, rutschende Hänge, rissige Gebäude. Vor allem für Bergsteiger wird die Lage in den Alpen besorgniserregender, sagt Forscherin Phillips. Sichere Routen zu finden, werde zunehmend schwieriger. Daneben kämpfen Bergbahnen mit instabileren Bauten. Die ohnehin kostspielige Infrastruktur muss für teures Geld zusätzlich gesichert werden.
Durchgehende Messungen seit den 80er-Jahren
Die Entwicklung der Permafrost-Temperaturen in den Schweizer Alpen beobachten SLF und das Schweizer Permafrost-Monitoring-Netzwerk Permos anhand von jeweils 30 Bohrlöchern. Die Messungen begannen in den 80er-Jahren. Lange war der Einfluss des Klimawandels auf den alpinen Permafrost unklar, mittlerweile sind die Folgen erkennbar: Er erwärmt sich stetig.
Dennoch, und das mag auf den ersten Blick paradox erscheinen, bildet sich in den Alpen derzeit sogar neuer Permafrost – ausgerechnet durch die Klimaerwärmung. Während der Permafrost an exponierten Graten und Felswänden in höheren Lagen wärmer wird, formiert sich an den Hangfüssen und in den Tälern neuer eisiger Boden.
Grund dafür ist eine ideale Mischung aus vermehrten Lawinen im Winter und zunehmenden Felsstürzen im Sommer. Landet der Steinschlag auf einer Lawinenablagerung, bildet sich ein Sandwich aus Schutt und Eis. Der Schutt konserviert auf natürliche Weise das Eis im Boden. Mit der Zeit entsteht ein sogenannter Blockgletscher, der Tausende Jahre bestehen kann.
Schutthaufen rutschen immer schneller zu Tal
«Blockgletscher sind eine mögliche Wasserquelle der Zukunft», sagt Forscherin Marcia Phillips. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte: Die eisigen Schutthaufen rutschen wegen der Klimaerwärmung immer schneller zu Tal. In 20 Jahren hat sich ihre Kriechgeschwindigkeit zum Teil vervierfacht – von rund zehn Zentimetern pro Jahr auf bis zu 40. Damit liefern sie zuverlässig Material für Murgänge, welche auch die Infrastruktur bedrohen können. «Weil die Böden instabiler werden, wird Bauen im Hochgebirge zur Herausforderung», sagt Phillips. «Man muss immer damit rechnen, dass sich der Boden in Bewegung setzt.»
Wie unterschiedlich sich die Temperaturen im Permafrost entwickeln, zeigt ein Vergleich von Bohrlochdaten des SLF. Auf dem Jungfraujoch etwa, auf knapp 3500 Metern über Meer, stiegen sie seit 2010 von minus 5,5 auf minus fünf Grad Celsius. Kritisch für den Permafrost wird es ab minus einem Grad. Angesichts des Klimawandels ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis diese Grenze erreicht wird.
Später Schnee führt zu Kühleffekten
Ein anderes Bild zeigt sich am Flüelapass im Kanton Graubünden. Dort liegen die Bodentemperaturen auf 2400 Metern relativ stabil um den Gefrierpunkt. Überraschend sanken sie in den vergangenen zwei Wintern auf dem Schafberg oberhalb von Pontresina GR (2750 m ü. M.) sogar – weil der erste Schnee sehr spät fiel. «Ein spätes Einschneien im Winter kann zur Abkühlung des Bodeneises führen», sagt Forscherin Phillips. Denn Schnee wirkt wie eine Isolationsdecke, welche Wärme im Boden zurückhält. «Ein wärmeres Klima kann also interessanterweise eine kühlende Wirkung haben.» Allerdings nur lokal.
Dass die Alpen Fieber haben, bleibt unbestritten.