Heike Wernli arbeitet Teilzeit, um ihre Partnerin zu pflegen
«Unser Leben ist trotzdem schön»

Brigitte Wernli (63) hat die seltene Krankheit ALS. Sie ist bei allem auf Hilfe angewiesen. Ihre Partnerin Heike arbeitet Teilzeit, um sie zu pflegen. Eine Riesenaufgabe.
Publiziert: 17.12.2017 um 15:34 Uhr
|
Aktualisiert: 12.09.2018 um 21:45 Uhr
1/4
Manchmal wird daraus dennoch ein Tanz.
Foto: Anja Wurm
Aline Wüst

Heike Wernli (54) ist kaufmännische Sachbearbeiterin.

Eigentlich.
Nun aber ist sie ungewollt auch noch Pflegerin geworden. Dabei hatte alles so schön angefangen: im Büro verliebt, dann die Heirat und viele, viele durchtanzte Nächte in Country-Clubs.

Bis zu dieser anderen Nacht, in einem St. Galler Hotel: Beide erinnern sich daran. Am nächsten Tag war der Termin beim Spezialisten, der endlich Klarheit bringen sollte. Gleichgewichtsstörungen plagten Brigitte Wernli (63), Muskeln hatten sich zurückgebildet, der bisherige Arzt nicht weitergewusst. Nebeneinander lagen sie im Hotelbett, als Brigitte Wernli in die Dunkelheit fragte: «Muss ich Angst haben vor morgen?»

«ALS, eine seltene Krankheit des Nervensystems»

Die Diagnose kam noch vor dem Mittagessen: ALS, eine seltene Krankheit des Nervensystems. Patienten verlieren kontinuierlich an Muskelmasse. Nach dem Zeitpunkt der Diagnose bleiben ihnen meist noch fünf Jahre.

Brigitte Wernli sitzt im Rollstuhl in ihrer Wohnung in Aarau, streichelt Ginger, das Hündchen. Drei Jahre sind seit der Diagnose vergangen. Beim letzten Fondue merkte sie, dass ihr die Kraft fehlt, den Brotmocken im Käse zu rühren. Statt zu weinen, will sie geniessen, was sie noch hat. Jeden Samstag gibts darum Apéro mit Freunden. Auch rauchen tut sie noch. Mit einer speziellen Halterung, um die Zigarette zum Mund zu führen. «Ich kann ja sonst nichts mehr.» Ihre Partnerin tritt hinter sie an den Rollstuhl. Küsst sie auf die Wangen, kitzelt sie. Brigitte lacht und sagt: «Ich kann mich ja nicht mal wehren.»

Ohne ihre Ehefrau könnte sie nicht mehr daheim leben. Heike Wernli ist eine von 160000 Berufstätigen in der Schweiz, die unentgeltlich Angehörige pflegen. Sie hat ihr Arbeitspensum auf 50 Prozent reduziert. Damit sie tun kann, was sie tun muss: ihre Partnerin im Bett drehen, ihr den Hintern abwischen, sie füttern, Zehennägel schneiden, das Glas reichen, Ginger die Leine anlegen, die Magensonde spülen, SMS tippen – und nun seit neuestem auch Brot für zwei im Fondue rühren.

Sie kommt an ihre Grenzen

Wie belastend so etwas sein kann, wusste sie bereits. Ihre Mutter sorgte fünf Jahre lang für ihren dementen Mann. Bis sie ausgebrannt und mit den Nerven am Ende war. Heike Wernli hat darum früh Unterstützung geholt: Zweimal pro Woche kommt die Spitex, eine von der­ IV bezahlte junge Frau kümmert sich um Brigitte, wenn sie selbst nicht da ist. Trotzdem kam Heike schon an ihre Grenzen.

Die Krankheit ALS schreitet schnell voran. Was Brigitte nicht mehr kann, muss die Partnerin übernehmen. Da gilt es auszuhandeln, was drinliegt, damit es für beide stimmt. Der nächtliche Gang zur Toilette ist nur ein Beispiel. Heike bekundete jeweils Mühe, wieder einzuschlafen, nachdem sie ihre Partnerin aufs WC gebracht hatte. Darum nutzt Brigitte nun nachts Windeln.

«Sie ist ja immer noch die gleiche Person»

Als Brigitte noch gehen konnte und dreimal stürzte, war es Heike, die ihr den Rollator hinstellte und befahl: «Nie mehr ohne!» Über die Krankheit sprechen die beiden kaum, obwohl sich alles darum dreht. Brigitte Wernli hadert nicht. «Unser Leben ist trotzdem schön», sagt sie. Heike Wernli wiederum sagt, sie pflege Brigitte gern. «Sie ist ja immer noch die gleiche Person, in die ich mich verliebt habe.» Schön an der Krankheit seien die Menschen, die sie durch den Verein ALS Schweiz kennengelernt hätten – andere Betroffene und Angehörige.

Die beiden Frauen sind Profis darin, im Schweren das Schöne zu erkennen. «Ich wurde noch nie so viel umarmt in meinem Leben», sagt Brigitte Wernli. Denn wer immer sie aufrichten will, muss zunächst ihre Arme nehmen, sie um sich legen, kann sie erst durch diese Umarmung heben. Heike verwendet den Fachbegriff: Transfer. Sie muss dabei auf ihren Rücken achtgeben. Doch manchmal, wenn sie Brigitte aus dem Rollstuhl hebt, hält sie ihre Partnerin einen Moment lang fest umschlossen, tanzt mit ihr. Brigittes Füsse schweben in der Luft, während Heike sich mit ihr im Kreis dreht. Die Frauen kichern.

Trendwende: Mehr Männer als Frauen pflegen!

Angehörige zu pflegen, war Frauensache. Nun haben die Männer aufgeholt. Mehr noch: Sie haben die Frauen überholt. Das sagen zumindest die neusten Zahlen des Bundesamts für Statistik zur unbezahlten Arbeit in der Schweiz. 21 Millionen Stunden unentgeltlicher Erwachsenenpflege sollen sie 2016 geleistet haben. Bei den Frauen waren es 20 Millionen Stunden.

Diese Trendwende überrascht. Auch das Bundesamt für Statistik selbst. Auf Anfrage heisst es, man sei froh, wenn die Zahlen genauer untersucht würden. Mit einer im Herbst in Auftrag gegebenen Studie erhofft sich der Bund mehr darüber zu erfahren, wie alte und kranke Menschen zu Hause gepflegt werden und von wem. 

Überrascht von den neuen Zahlen ist auch Pflegewissenschaftlerin Iren Bischofberger. Sie beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema der pflegenden Angehörigen. Sie glaubt, dass sich hier ein Trend zeigt, den sie aus ihrer Forschungsarbeit kennt. So wisse sie aus diversen Interviews, dass Männer sich frühpensionieren lassen oder Teilzeit arbeiten und deshalb mehr Zeit haben, um sich um ihre kranke Partnerin kümmern zu können.

Zudem sind immer mehr Frauen erwerbstätig und teilen die Pflege mit ihren Männern auf. Wichtig sei anzuerkennen, dass Pflege nicht einzig die direkte Betreuung von Angehörigen umfasse. Ebenso wichtig sind Managementaufgaben wie Behördenkontakte oder Versicherungsfragen und auch  Recherchearbeiten, um Therapie- oder Betreuungsmöglichkeiten ausfindig zu machen, sagt Bischofberger. Denkbar sei, dass dieser zeitaufwendige Teil der Pflege öfter von Männern übernommen werde.

Pflegewissenschaftlerin Iren Bischofberger.
Pflegewissenschaftlerin Iren Bischofberger.

Angehörige zu pflegen, war Frauensache. Nun haben die Männer aufgeholt. Mehr noch: Sie haben die Frauen überholt. Das sagen zumindest die neusten Zahlen des Bundesamts für Statistik zur unbezahlten Arbeit in der Schweiz. 21 Millionen Stunden unentgeltlicher Erwachsenenpflege sollen sie 2016 geleistet haben. Bei den Frauen waren es 20 Millionen Stunden.

Diese Trendwende überrascht. Auch das Bundesamt für Statistik selbst. Auf Anfrage heisst es, man sei froh, wenn die Zahlen genauer untersucht würden. Mit einer im Herbst in Auftrag gegebenen Studie erhofft sich der Bund mehr darüber zu erfahren, wie alte und kranke Menschen zu Hause gepflegt werden und von wem. 

Überrascht von den neuen Zahlen ist auch Pflegewissenschaftlerin Iren Bischofberger. Sie beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema der pflegenden Angehörigen. Sie glaubt, dass sich hier ein Trend zeigt, den sie aus ihrer Forschungsarbeit kennt. So wisse sie aus diversen Interviews, dass Männer sich frühpensionieren lassen oder Teilzeit arbeiten und deshalb mehr Zeit haben, um sich um ihre kranke Partnerin kümmern zu können.

Zudem sind immer mehr Frauen erwerbstätig und teilen die Pflege mit ihren Männern auf. Wichtig sei anzuerkennen, dass Pflege nicht einzig die direkte Betreuung von Angehörigen umfasse. Ebenso wichtig sind Managementaufgaben wie Behördenkontakte oder Versicherungsfragen und auch  Recherchearbeiten, um Therapie- oder Betreuungsmöglichkeiten ausfindig zu machen, sagt Bischofberger. Denkbar sei, dass dieser zeitaufwendige Teil der Pflege öfter von Männern übernommen werde.

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?